fünf Jahrhunderte hindurch in
allen Schulen bei den Römern der gefeierte Liebling blieb.
Indem wir nun mit Recht das Epos für das poetische Totalbild eines
Volkes und einer Zeit ansehen, ist dies nicht so zu verstehen, als solle
das Gedicht ein ethnographisches Gemälde sein oder eine geordnete
Schilderung der damals herrschenden Sitten, wie sie der Historiker
unternimmt. Vielmehr fordert das Gesetz aller Poesie auch beim Epos,
daß der allgemeine Geist sich zu einer bestimmten epischen
Begebenheit zusammenziehe und sich individualisiere, und daß nicht
das ganze Volk oder gar die Menschheit, sondern ein bestimmter Held
Subjekt derselben sei. Das nationale Leben wird uns im Epos in einer
einzelnen begrenzten That vorgeführt; es kommt durch eine bestimmte
Situation, durch bestimmte Zwecke und Handlungen als ein konkretes
Individualbild zur Anschauung. Einen Konflikt und eine Kollision
verlangt auch das Epos, aber dieser Konflikt ist von dem dramatischen
sehr verschieden. Im Drama stehen sittliche Mächte in Kollision; das
Subjekt, das sich auf dem Punkte ihres Zusammenstoßes befindet, geht
zu Grunde. Oder das Individuum macht sein individuelles Pathos, den
inneren Drang seiner Leidenschaft der objektiven Ordnung der Dinge
gegenüber geltend; es kreuzt mit seinen subjektiven Zwecken die des
Schicksals und der sittlichen Notwendigkeit und macht untergehend die
tragische Erfahrung seiner Endlichkeit. In der epischen Welt aber gibt
es noch keinen so tiefen Zwiespalt; der Lauf des Schicksals tritt dem
Streben des Einzelnen nicht entgegen, sondern hebt und fördert es. Die
epische Kollision vernichtet daher den Frieden des Menschen nicht;
ohne die harmonische Entfaltung des Volksganzen zu stören, bringt sie
nur eine belebende Bewegung hervor. Eine passende epische Kollision
ist daher der Krieg, in welchem die Nation ihre Kräfte übt und
Wachstum und Entfaltung beschleunigt fühlt; nur darf der Krieg kein
innerer, im Schoße des Volks selbst ausgebrochener sein, kein
Dynastieenkampf wie bei Shakespeare, kein Bruderzwist um das Erbe
des Thrones, denn dann stehen wir auf dem tiefen Boden der
dramatischen Kollision. Auch Entdeckungszüge wie die der
Portugiesen bei Camoens, eine Kreuzfahrt wie bei Tasso sind ein
schöner epischer Stoff: auch dort türmen sich die Hindernisse, die
Gefahren nur auf, um überwunden zu werden, und der Widerstand der
Wirklichkeit dient nur dazu bei jedem Schritte sich dieser Wirklichkeit
vollständiger und glücklicher zu bemächtigen. Auf diesem allgemeinen
Boden epischer Kollision tritt nun die ganz individuelle epische
Begebenheit auf, und in ihr bewegen sich die epischen Charaktere.
Auch der Charakter des epischen Helden schwebt wie die Begebenheit
in der Mitte zwischen der nationalen Basis und seiner individuellen
Besonderheit. Er ist, was jeder sein kann, was jeder im Grunde ist: dies
in ihm Waltende ist nichts andres als die allgemeine Lebensgrundlage,
die alle trägt. Sein Streben ist kein Kampf, weder mit dem Schicksal
noch mit der ihn umgebenden Volksnatur. Er will nicht die Welt
umgestalten und etwas erst noch in seinen Gedanken Vorhandenes
realisieren, sondern in der Realität selbst wirkend, folgt er dem Zuge
der Dinge mehr in ein äußeres Geschehen verflochten als durch
wirkliche That, die immer in dem Innern des Subjekts entspringend in
der Welt der Objekte sich durchsetzt, die Natur nach Zwecken seiner
Freiheit umformend. Im Epos ist daher kein verwickeltes
psychologisches Getriebe, kein verstecktes Motiv; die Handlungen
fließen aus dem Instinkt des Ganzen. Die erzählte Begebenheit strömt
ruhig an uns vorüber; der äußere Vorgang, Umstände, Zufälle,
Ereignisse, dasjenige, was dem Helden begegnet, nicht der Held selbst
als eine innerlich von Absichten bewegte oder von streitenden Motiven
aus dem Gleichgewicht gebrachte Persönlichkeit ist im Epos das
Wesentliche. Danach lassen sich alle geschichtlichen Charaktere in
epische und dramatische einteilen. Der epische Held ist nur eine
Konzentration der Nation und der Zeit; was er will und fühlt, ist Wille
und Gefühl aller. Er ist daher immer glücklich, er ist der Günstling des
Geschickes und die Götter sind mit ihm. Die Macht der Umstände trägt
ihn von Erfolg zu Erfolg, Hindernisse und Hemmungen weichen, sein
eigenes Innere ist offen, harmonisch bewegt; keine individuelle Willkür
reißt ihn los von der Lebensgemeinschaft mit allen übrigen, und, indem
er ein umfassendes Werk mit Größe vollführt, ist diese Vollführung
vielmehr das bewußtlose Werden der Dinge selbst. Bei den tragischen
Charakteren, die der reine Gegensatz der epischen sind, ist die religiöse
Harmonie zur Empörung geworden. In Zeitaltern vorgeschrittener
Zivilisation isoliert sich der begabte weiter blickende Genius; er fühlt
der stumpfen Masse gegenüber höhere Einsicht, überwiegende Kraft in
sich; er bildet den ersten Strahl des kommenden Zeitalters; in dem
Kampf gegen das Bestehende fällt er als Opfer; der zähen Gewohnheit,
der Beschränktheit gegenüber verblüht er langsam; oder er überwindet
den Widerstand, steigt zum höchsten Glanz empor und will die Welt
nach seinen Zwecken zwingen. Aber da ereilt ihn nach dem
tiefsinnigen Ausdruck der Alten der Neid der Götter, die nicht dulden
können, daß ein Sterblicher sich mit ihnen messe und das Steuer der
Weltregierung ihren Händen entreiße. Indem er sein individuelles
Pathos zum alleinigen Gesetz macht, stört er den
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