Ueber Goethes Hermann und Dorothea | Page 9

Victor Hehn

sie die Sohlen anlegen und über das Unterkleid den Mantel werfen; er
zählt uns alle Stücke der ehernen Rüstung auf von den Beinschienen
bis zum Haarbusch des Helms, ebenso alle Polster und weicheren
wollenen Teppiche des Bettes; er folgt der Mahlzeit in allen ihren
Teilen, die Helden waschen sich die Hände, sie erhalten alle gleiche
Portionen Fleisch zugeteilt, die Herolde mischen den Wein mit Wasser
und gießen aus dem Mischkessel jedem Gaste das Getränk in den
kleineren Becher u. s. w. Treten im entscheidenden Moment der
Schlacht zwei Kämpfer einander gegenüber, schon ist die Lanze
gehoben, so hat der Dichter doch noch Zeit und heitere Seelenruhe
genug uns mit den bisherigen Schicksalen des einen oder des andern
bekannt zu machen, wo er bisher gelebt, wer seine Mutter und sein
Vater gewesen, ja wie dessen Vater geheißen und wo und wie alt er
gestorben sei. Ganz von dieser epischen Ruhe sind auch Homers
Dialoge, die Wechselreden der Helden und der Götter unter einander
durchdrungen. Sie mögen in heftiger Leidenschaft mit einander streiten
oder sie mögen Befehle geben und empfangen oder prahlend mit
einander im Wortkampf wetteifern oder in Todesnot um Rettung flehen
oder forschen oder erzählen, immer ist es der langsame, ruhig
strömende Fluß, der nirgends anhält, aber auch nirgends mit
stürmischer Gewalt fortdrängt. Ein gutes Beispiel epischen Verweilens
bildet die Stelle, wo die Amme Eurykleia beim Fußwaschen plötzlich

ihren Herren, den als Bettler zurückgekehrten Odysseus an der Narbe
am Knie erkennt. Es ist der Moment höchster Spannung: dennoch
erzählt der Dichter nun ausführlich, wie Odysseus in der Jugend zu
dieser Narbe gekommen, bei einem Besuch bei Autolykus auf dem
Parnaß; die Eberjagd, auf der der Eber ihm die Wunde beibrachte, wird
mit allen Einzelheiten geschildert; die dabei vorkommenden Reden
werden mitgeteilt; endlich wird mit den Worten: »diese Narbe also
erkannte die alte Amme« wieder eingelenkt. Wiederum als Patroklus
getötet worden und Achilles die Waffen ergriffen, schwärmt er voll
Wut und Vernichtungseifer auf dem Schlachtfelde: da trifft er auf den
Lykaon, den Sohn des Priamus; ein Augenblick genügte, um den
Unglücklichen zu verderben. Aber der Dichter schiebt ruhig diesen
Augenblick noch auf: er erzählt uns zuerst, wie Achilles schon früher
einmal den Lykaon in dunkler Nacht in des Vaters Weingarten
überfallen; der Jüngling schnitt sich da mit scharfem Messer von einem
Feigenbaum junge Ruten; diese Ruten sollten zu Wegweisern dienen;
doch überfiel ihn nun dort unversehens der göttliche Sohn des Peleus.
Aber er schickte den Gefangenen auf einem Schiffe über das Meer und
verkaufte ihn ins schöngebaute Lemnos. Käufer aber war Euneus, Sohn
des Jason. Von dort kaufte ihn ein Freund los, viel Gold gebend, Eetion
der Imbrier, und schickte ihn nach Troja zurück in die göttliche Arisbe.
Von dort heimlich entfliehend kam er ins väterliche Haus zurück.
Daselbst war er elf Tage, sich des Umgangs seiner Lieben freuend,
nachdem er Lemnos verlassen, am zwölften aber traf er wieder auf den
Achilles. Jetzt also stehen wir wieder bei dem Moment wie vor jener
Einschaltung. Aber noch fällt der tödliche Streich nicht. Achilles ist
verwundert den nach Lemnos Verkauften wieder auf dem Kampfplatz
vor sich zu sehen und jetzt folgt ein lautes Selbstgespräch von zehn
Versen, in welchen Achilles ausruft: Fürwahr ich glaube, die von mir
getöteten Troer kehren aus der Unterwelt wieder zurück; so habe ich
diesen doch in die heilige Lemnos verkauft, aber das graue salzige
Meer hat ihn nicht zurückhalten können und viele kommen doch wider
ihren Willen im Meere um; aber nun will ich sehen, ob er, wenn er
meines Speeres Schärfe erfahren, auch von da zurückkehren wird oder
ob ihn die Erde bändigen wird, die ja auch den Kräftigen bändigt. Jetzt
beschreibt der Dichter, wie Lykaon im Gemüte nicht sterben gemocht,
in welcher Stellung Achilles ihm gegenüber gestanden, wie Lykaon

darauf bittend sich ihm genaht, und nun folgt in mehr als zwanzig
Versen diese Bittrede, in der Lykaon wieder Zug für Zug erzählt, wie er
in dem Obstgarten gefangen worden, für hundert Ochsen nach Lemnos
verkauft sei, elf Tage zu Haus zugebracht u. s. w. Ich sehe, sagt er, daß
meine Mutter mich nur zu kurzem Leben geboren hat, die Laothoe, die
Tochter des greisen Altes, welcher über die kriegerischen Leleger
herrscht in der hohen Pedasos am Flusse Satnioeis. Dieses Altes
Tochter hatte Priamus wie viele andre: wir waren von der Mutter zwei
Kinder, du wirst sie wohl beide töten, den einen hast du schon getötet,
den göttergleichen Polydorus u. s. w. Hierauf antwortet Achilles
seinerseits ausführlich in fast ebenso langer Rede, worin er den Tod des
Patroklus anführt, und nun erfolgt die Tötung, deren nähere Umstände
gleichfalls genau angegeben werden. Solche Beispiele des wahrhaft
epischen Tones ließen sich aus Homer unzählige anführen. Der Dichter
folgt aber in der Reihe der Zeitmomente nur dem Gesetz poetischer
Anschaulichkeit und, wenn er manchmal das Ausgedehnte
zusammenfaßt, so entfaltet er meistens das,
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