Züge und Kämpfe
nationaler Massen: in ihm herrscht nicht eine einzelne Empfindung
oder Leidenschaft oder eine begrenzte Herzens- und Lebenssituation
wie im lyrischen Gedicht oder im Drama, sondern es umschließt die
volle Totalität einer Nation und einer Zeit. Dadurch nur wird auch das
Epos zum Hauptbuche, zur allgemeinen Quelle der Erziehung und
Bildung oder, wie Hegel treffend sagt, zur Bibel des Volkes. So blieb
Homer für immer der heilige Lehrer der Griechen, dessen Aussprüche
wie Entscheidungen eines Gottes galten, auf den sich jeder berief, der
das Fundament wurde, auf welches sich die gesamte poetische,
religiöse und sittliche Bildung der Griechen auferbaute. Homer schuf
nach Herodot den Griechen ihre Götter, die Tragiker entnahmen ihm
die Fabel ihrer Stücke, die Philosophen maßen ihre Ansichten an ihm;
Grenzstreitigkeiten wurden nach seinen Aussprüchen geschlichtet;
Lykurg legte ihn der altdorischen Ordnung, die er befestigte, zu Grunde;
in Athen war Homer das Erziehungsbuch der Jugend. Eine ähnliche
epische Bibel hat fast jede bedeutende Nation in einem gewissen
Stadium ihrer Geschichte hervorgebracht: die Indier haben ihre großen
Epen wie die Griechen ihren Homer; so erzeugten die Italiener
gleichfalls am Anfangspunkt ihres nationalen Werdens ihren Dante, für
dessen Erklärung sogar eigene Lehrstühle an den Universitäten
errichtet wurden; so die Portugiesen ihren Camoens, der ebenfalls in
einer Periode des Aufschwunges der portugiesischen Volksmacht lebte
und diesen Aufschwung, nämlich die Entdeckungsfahrten nach Indien
in seine Lusiaden aufnahm; und nicht anders wurde im deutschen
Mittelalter Wolfram von Eschenbachs Parzival der treue und
vollständige Spiegel des damals herrschenden mystischen Rittertums
und wurde daher auch das am allgemeinsten verbreitete Buch, Genuß
und Vorbild für alle. Manchen Bibeln fehlt die epische Form, z. B. dem
alten Testament, wo auch niedergelegt ist, was das jüdische Volk an
Sage und Geschichte, an Poesie und Nachdenken besaß, obgleich im
Alten Testament das Religiöse zu sehr vorherrscht, als daß wir es für
ein wirkliches Epos erklären könnten. Ebenso verhält es sich mit den
religiösen Grundbüchern der Perser und Araber, dem Zendavesta und
dem Koran. Eben aber weil das Epos auf diese Weise den ganzen
geistigen Schatz eines Volkes in sich schließt, rührt es in seiner reinsten
Gestalt auch nicht von einem einzelnen Dichter her, sondern ist aus
Rhapsodieen, Volksgesängen, epischen Bruchstücken aller Art
zusammengeflossen. Wie Homer sind auch die Nibelungen und Gudrun,
auch das finnische Epos auf diese Weise entstanden. Hegel widersetzt
sich zwar mit Nachdruck der Wolfschen Hypothese, wonach die Ilias
und Odysse aus gesonderten Teilen erst später zusammengesetzt
worden: aber er thut dies nicht aus Gründen historischer Kritik, sondern
weil er mit Recht glaubte, die Einheit sei einem Gedicht unerläßlich
und ein wahrhaftes Kunstwerk müsse ein geschlossenes Ganzes bilden.
Allein die Einheit braucht deshalb nicht verloren zu gehen: es kommt
durch die Gleichartigkeit des in der epischen Zeit alle Einzelnen
beherrschenden Volksgeistes und seiner Sage in die getrennten
Bruchstücke von selbst Einheit des Tones und lebendiger
Zusammenhang; ferner ist ja das Epos in der Gestalt, wie es den
späteren Geschlechtern überliefert wird, das Werk eines Ordners und
Zusammensetzers (Diaskeuasten), der nach einem bestimmten
Gedanken verfährt, welcher in den Bruchstücken selbst enthalten ist. So
konnten die Ilias und Odyssee, obgleich sie nur eine Konkretion alter
Heldengesänge und epischer Hymnen sind, dennoch den strengen
Zusammenhang haben, dessen Fugen nur das geschärfte kritische Auge
an manchen Stellen entdeckt. Umgekehrt fehlt es in manchen
reflektierten späteren Epen, obgleich sie von einem Dichter
herstammen, an der nötigen inneren Gleichartigkeit. Die Aeneis des
Virgil z. B. besitzt die künstlerische Einheit nicht; die Geschichte von
der Dido z. B. fällt aus dem epischen Ton heraus und ist eine ganz
tragische Episode. Auch Klopstocks Messias ist, weil der Dichter
ungefähr zwanzig Jahre daran arbeitete, sehr disparat in seinen
einzelnen Teilen. Gerade wenn das Gedicht das unmittelbare Produkt
des naiv dichtenden Volkes ist, wird es in sich zusammenstimmen, so
lang es auch sei. Das echte Epos wird immer das Ansehen haben, als
wenn das Volk selbst mit dunklem Triebe nach Selbstdarstellung es
geschaffen: der Einzelne, der daran gearbeitet, verliert sich; das
Nibelungenlied hat sich selbst gedichtet, es ist erwachsen. Daher sagt
Jakob Grimm sehr wahr: es gibt gute und schlechte lyrische Gedichte,
gute und schlechte Dramen, aber dem echten Epos steht nur ein
falsches gegenüber. Dies ist der Mangel z. B. bei Virgil: er ist ein
künstlicher gelehrter Dichter, der an die Wahrheit der Dinge, die er
erzählt, selbst nicht glaubt; er ist in dem Bewußtsein der von ihm
geschilderten Welt nicht befangen, schafft mit Absicht, ahmt nach und
stutzt seine Rede mit rhetorischen Blumen auf. Nur in einer Hinsicht
zeigt er sich als wahrhaft epischen Dichter: auch ihn nämlich
durchdringt wie das ganze römische Volk das Bewußtsein der
Herrlichkeit dieses Volkes, seine göttergleiche Größe, der Stolz und die
Pracht der Weltherrschaft. An solchen Stellen ist auch er nur ein
Ausdruck seines Volkes, die Begeisterung ist keine künstliche und die
Worte strömen ihm zu, daher er auch
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