Ueber Goethes Hermann und Dorothea | Page 5

Victor Hehn

Notwendigkeit war, das steht ihm jetzt gegenüber als ein moralisches
Gebot; es gibt feste Rechte und Gesetze, die sich dem Gefühl des
Einzelnen als Schranke entgegensetzen; der Staat tritt auf als eine
bestimmte Verfassung mit besondern Satzungen, geschaffen durch
Gesetzgeber; letzterer freilich faßt auch nur die geltende nationale
Empfindung in Sätze und Formeln, dennoch ist schon diese Form des
geschriebenen Gesetzes die erste Stufe der Reflexion; das poetische
Gesamtleben der episch-heroischen Zeit wird zu einer prosaischen
Ordnung der Dinge. Wird nun das in sich gebrochene Gemüt, das
aufgehört hat ein totales zu sein, in sich selbst zurückgetrieben, um dort
in subjektiven Empfindungen und Betrachtungen zu weilen, so gibt
diese Beschäftigung des Subjekts mit sich selbst der lyrischen Poesie
Entstehung; drängt es umgekehrt den Zwiespalt mit der bestehenden
Welt nach außen und sucht praktisch und handelnd sein Inneres in der
objektiven Welt geltend zu machen, so führt dieser Kampf individueller
Zwecke und Charaktere mit den allgemeinen objektiven Mächten zur

dramatischen Poesie.
Wie aber in der Periode des Epos die Kräfte des Menschen überhaupt
noch in Einheit sind, so ist auch sein sinnliches Dasein noch nicht von
dem geistigen unterdrückt. Die homerischen Helden sind ganze volle,
zugleich herrlich sinnliche und edel geistige Menschen, stehen im
engen Verkehr mit der äußern Natur, und die physischen Bedürfnisse
und deren Befriedigung gelten ihnen eben so sehr, als wir sie zu
verhüllen streben. Essen und Trinken ist in ihrem Lebenslauf keine
Nebensache, und die äußeren Verrichtungen, die dazu nötig sind,
stehen nicht unter ihrer Würde. Der Held schlachtet selbst seinen
Ochsen und zerlegt und reinigt ihn und brät das Fleisch; der Sessel, auf
dem er sitzt, das Bett, in dem er schläft, die Matten, Segel und
Ruderbänke des schnellen hohlen Schiffes, mit dem er übers Meer
gekommen, sein Helm, sein Schild, sein Panzer und der Speer, mit dem
er sich zur Schlacht wappnet, der Wagen, mit dem er über die troischen
Gefilde eilt, die Zügel, die Pferde -- alles dies gehört wesentlich zum
Kreise, in dem seine Persönlichkeit gegenwärtig ist. Und indem er in
diese sinnlichen Beschäftigungen und physischen Bedürfnisse sein
ganzes Ich hineinlegt, werden diese Verrichtungen selbst geadelt und
gleichsam menschlicher. Für uns arbeiten Maschinen und Fabriken; wir
beteiligen uns an den sinnlichen Geschäften nur halb, unser edleres
Selbst ist nicht dabei zugegen; Diener thun es für uns hinter unserm
Rücken; Handwerker verfertigen unser Gerät; die Speisen kommen uns
künstlich bereitet schon zu und diejenige Klasse, die sich mit jenen
Verrichtungen abgibt, hat dafür den geistigen Adel eingebüßt, den die
homerischen Menschen bei all ihrem Thun bewahren. So macht es jetzt
einen rührenden Eindruck auf uns, wenn Penelope, die Fürstin von
Ithaka, und Helena, die Gattin des Königssohnes Paris, selbst ihr
Gewand weben, daß Nausikaa selbst am Meeresufer mit ihren Mägden
ihre Kleider wäscht und trocknet. Wenn von dem einen Helden
gerühmt wird, daß die Beredsamkeit von seinen Lippen geflossen wie
süßer Honig (ein sehr geistiges Lob), so preist der Dichter dafür andre
wegen ihrer mächtigen Stimme, wegen der Schnelligkeit ihrer Füße
und der Kraft, mit der sie große Steine aufheben und fortschleudern,
also wegen sinnlicher Eigenschaften. Das Ansehen des Königs stützt
sich auf die Gewalt des Heldenkörpers, durch die der Herrscher dem

Volk überlegen ist. Der Kampf selbst ist ein körperlicher: Mann trifft
auf Mann. Voll schöner symbolischer Gebräuche ist die Kriegführung,
die Bestattung, der Opferdienst, öffentlich ist die Volksversammlung,
sie bewegt sich in lauter sichtbaren und hörbaren Formen. So gilt das
Recht der Sinnlichkeit unverkürzt und das Sittliche und Physische
verschmelzen mit gleicher Macht zum Bilde einer totalen, in sich
einigen und ungebrochenen Menschennatur.
Auf diesem Boden also entsteht das Epos und damit ergeben sich alle
Eigenschaften dieser poetischen Gattung von selbst. Wenn der Held
abends von seinen Thaten ruht, wenn nach beendigtem Mahle das
Verlangen nach Speise und Trank gestillt ist, dann tritt der Rhapsode
auf und sein Lied ist eine ideale Reproduktion des Erlebten und
Vollführten, Erzählung geschehener Thaten und Begebenheiten,
Erinnerung an eine nähere und fernere Vergangenheit. Solche Gesänge
tönen bei jedem Fest, unter jedem Dache, überhaupt wenn die Mußezeit
eingetreten ist. Sie sind nicht willkürlichen und individuellen Inhalts;
nicht der Einzelne hat sie mit diesem bestimmten Geiste gefüllt und in
dieser bestimmten Form gestaltet; er ist ein Organ, gleichsam der Mund
des Volkes, das lautwerdende Allgemeingefühl. Das Nibelungenlied,
sagt Grimm, hat sich selbst gedichtet. So haben diese Rhapsodieen
einen inneren Zug zusammenzufließen; zugleich bildet sich die anfangs
schwankende Sage durch vielseitigen Austausch zu einer festen Gestalt.
Das so entstehende epische Gedicht wird in einer Periode, wo
überhaupt mehr die allgemeinen Lebensgesetze gelten als das
Individuum, das ganze nationale Leben umfassend spiegeln; es wird ein
Abbild der Thaten und Gesinnungen des Volkes überhaupt. Das Volk
selbst dichtet das wahre Epos und spricht sich darin mit allen seinen
Eigentümlichkeiten aus. Das epische Gedicht erzählt uns daher keine
vereinzelte That, sondern die Bewegung, die
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