Ueber Goethes Hermann und Dorothea | Page 4

Victor Hehn
Wir werden dann weiter die
Begebenheit selbst, die der Dichter uns erzählend vorführt, die
Personen und Charaktere, die er in Handlung setzt, sowie die ganze Art
der Darstellung und Behandlung näher ins Auge fassen. Auch die
Diktion, der sprachliche Ausdruck, der Versbau gehört zur
Charakteristik des Gedichts, sowie zum Schluß die Begleichung mit
den beiden epischen Vorgängern unsres Gedichts in der deutschen
Literatur, ich meine mit Klopstocks Messias und Voßens Luise dazu
dienen wird, die Eigentümlichkeit und den Wert unsres Gedichts ins
Licht zu setzen. Dies also der Faden, an dem unsre Betrachtung
fortlaufen wird.
Die inneren Gesetze der epischen Poesie werden wir nirgends sicherer
erkennen und in reinerer Gestalt wiederfinden können, als bei dem
Vater aller epischen Poesie, dem alten Homer. Das glückliche Volk der
Griechen war ja so künstlerisch und poetisch organisiert, daß bei ihnen
die einzelnen Gattungen der poetischen Idee sich in naturgemäßer
Stufenfolge eine aus der andern entwickeln und sich selbst ihre
notwendige Form erschufen, so daß die inneren Momente des Begriffs
nirgends so rein mit der Wirklichkeit, die Poetik mit der Geschichte der
Poesie zusammenfällt. Goethe selbst hatte, indem er Hermann und
Dorothea dichtete, den Homer als Vorbild vor Augen und so ruft er
eben mit Bezug auf seinen Hermann:
Denn Homeride zu sein, auch nur als letzter, ist schön.

Wir werden also, indem wir die Grundzüge der epischen Poesie
entwerfen, dies immer im Hinblick auf Homer thun.
Epos, Wort, Sage ist die Poesie im Kindheitsalter der Völker, in den
Anfängen der Geschichte. Die epische Poesie blüht in jener
Morgendämmerung, wo ein Volk schon aus der Wildheit und
Stumpfheit des ersten Naturdaseins zum Geiste erwacht ist, wo aber die
geistigen und sittlichen Mächte noch nicht als etwas Bewußtes, klar
Erkanntes und als eine abgesonderte feste Gewalt dem Menschen
gegenüberstehen, sondern dieser auf ganz naive Weise mit dem
sittlichen Gebot noch eins ist. Es gibt in dieser Periode zwar schon ein
Staatsleben, aber noch nicht in Form bestimmter Gesetze und fester
Rechte, die die Freiheit des Einzelnen zügeln. Jeder trägt vielmehr die
politische Sitte in seiner eignen Brust und, indem er ihr folgt, weiß er
nicht, daß es anders sein könnte. Gesetz und Empfindung sind noch
nicht geschieden und die Empfindung ist es eben, die den politischen
Zustand geschaffen hat. So ist Agamemnon zwar König, aber diese
Herrschaft beruht auf keinem geschriebenen Gesetze. Wenn er den
besten Anteil von der Beute erhält, so versteht sich dies bei jedem von
selbst. An welchem Punkte seine Macht aufhört und die der
Aristokratie, der Geronten und Basileis beginnt und die letztere wieder
durch die Volksversammlung beschränkt wird, dies ist nicht durch feste
Satzung bestimmt, sondern durch das Allgemeingefühl der Einzelnen
von selbst gegeben. Eine durch Reflexion bestimmte, durch Beratung
zu stande gebrachte geschriebene promulgierte Verfassung gibt es nicht;
die politische Ordnung hat keinen andern Boden als die unbefangene
Gesinnung aller. Ebenso ist auch das Recht und die Rechtspflege nicht
eine für sich bestehende Welt; die Bestimmungen derselben sind
schwankend; es hat keine andre bindende Form, als die ihm durch das
unmittelbare Volksleben, durch das Rechtsgefühl und den
Billigkeitssinn gegeben wird. Hat einer z. B. einen Mord begangen,
was bei dem frischen Dasein der homerischen Menschen nichts
Seltenes ist, so sucht er die Familie des Getöteten durch eine Buße zu
versöhnen oder er verläßt fliehend die Heimat: eins oder das andre
macht ihm die Sitte zur Pflicht. Streiten zwei um ein Gewicht Goldes,
so bildet das Volk im Freien einen Kreis, die Greise als Richter sitzen
auf erhöhten steinernen Stufen, das Szepter als Zeichen richterlichen

Ansehens und erfahrener Weisheit in der Hand: hin und her wird
gestritten, das Volk fällt von beiden Seiten schreiend ein, die Herolde
gebieten Ruhe; endlich geben die Greise nach eigenem Sinne und
unmittelbarem Wahrheitsgefühl die Entscheidung. So ist auch das
Kriegswesen der homerischen Zeit ohne äußerlich zwingende Norm
und gestaltet sich aus dem Grunde des in allen Teilnehmern lebenden
kriegerischen Sinnes. Keine Disziplin braucht wie in späteren Zeiten
die widerstrebende Willkür der Individuen zu zügeln; wenn sich die
Reihen fest zusammenschließen, wenn ein Kämpfer dem andern hilft,
wenn um den Leichnam des Gefallenen die Ueberlebenden rettend und
schirmend sich scharen, so geschieht dies nicht nach Befehl, sondern
durch eine innere Nötigung, die jeden von selbst drängt. So handelt in
diesem epischen Zeitalter das Individuum ganz naiv und unbewußt
nach dem Zuge seiner Menschlichkeit; es ist von dem Volksgeist in
allem, was es thut und fühlt, bestimmt und in den allgemeinen Mächten,
die das Leben und die Sitte bilden, völlig enthalten. Es sind mit einem
Worte objektive, substanzielle Menschen. So wie nun in einer späteren
Periode der Geschichte die Trennung des Subjekts von der Substanz
vor sich geht, treten wir aus der spezifisch epischen Welt heraus. Das
Gemüt und die Gesinnung des Einzelnen sind nicht mehr im Einklang
mit dem Geltenden: was früher bei seinem Thun eine innere
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