haben wir in
Wilhelm von Humboldts Schrift über Hermann und Dorothea gefunden,
die schon im Jahre 1799 als erster und einziger Teil der ästhetischen
Versuche erschien. Die Darstellung hält sich in blut- und markloser
Abstraktion, von deren Höhe das lebendige poetische Individuum ganz
aus dem Gesicht verschwindet, und löst man den jedesmaligen
Gedanken aus der gezwungenen Eleganz und eisigen Vornehmheit des
Ausdrucks, so findet man ihn gewöhnlicher, als es den Anschein hatte.
Wenn Schiller daher nach Lektüre der ihm übersandten Schrift von der
kunstphilosophischen Theorie überhaupt nichts mehr wissen wollte, so
wird diese Stelle seines Briefes zwar gewöhnlich als Geständnis der
Umkehr, in der er sich vom Denker zum schaffenden Dichter gerade
befand, gefaßt; vieles aber an jener Stimmung kommt gewiß auf
Rechnung des gerade sehr unfruchtbaren Buches, aus dessen
Veranlassung er sich äußert. Auch Goethe wandte sich bald von der
Lektüre desselben unwillig ab, angeblich weil ihn der Tadel eines in
dem Gedicht vorkommenden Motivs verdroß. Auch uns hat die ganze
umfangreiche Abhandlung geringere Ausbeute geliefert als die wenigen
Seiten, die der vortreffliche Hillebrand dem Gedichte widmet. Gervinus
erwähnt dasselbe nur vorübergehend, weniger, wie wir glauben, aus
Gründen seines Prinzips historischer Genesis, dem er selbst häufig
genug untreu wird, als wegen der seiner Darstellung überhaupt zu
Grunde liegenden Kälte gegen den Dichter des Humanismus.
Hermann und Dorothea.
Von allen Dichtungen Goethes ist keine, wenn wir den Werther
ausnehmen, gleich anfangs von der Nation mit so allgemeinem Beifall
aufgenommen worden, als Hermann und Dorothea. Der Faust, der jetzt
vielleicht unter den Goetheschen Werken das populärste ist, auch im
Auslande, gewann sein Ansehen erst allmählich und wohl erst in der
späteren Gestalt, in der er zur Zeit der romantischen Schule im Jahre
1808 neuvermehrt in zweiter Auflage erschien. Hermann und Dorothea
war dem Stoffe nach so deutsch und so menschlich ansprechend und
zugleich eine so durchsichtige und vollendete Kunstgestalt, daß das
Gedicht sowohl die Menge, die nur nach dem Stoffe urteilt, als den
gebildeten Kunstsinn, dem nur die Form, die künstlerische Behandlung
gilt, zur Bewunderung hinriß. Schiller erklärte, nachdem er Hermann
und Dorothea gelesen, dies Gedicht für den Gipfel der Goetheschen, ja
aller modernen Kunst. Wilhelm von Humboldt knüpfte in einem
eigenen Buche, das bald nach Hermann und Dorothea unter dem Titel
»Aesthetische Versuche« erschien, an dies Gedicht eine ausführliche
Erörterung allgemeiner ästhetischer Prinzipien. Auch August Wilhelm
Schlegel nannte in einer eigenen Beurteilung Hermann und Dorothea
ein vollendetes Kunstwerk im großen Stil, ein Buch voll goldner
Lehren der Weisheit und Tugend. Mit gleicher Bewunderung äußern
sich neuere Kritiker. Hermann und Dorothea, sagt Hillebrand, der ganz
kürzlich eine vortreffliche Geschichte der deutschen Nationalliteratur
von Lessing bis auf die Gegenwart verfaßt hat, Hermann und Dorothea
ist ein Bibelwerk deutscher Religion und Tugend. Und Gervinus meint,
wenn jetzt ein alter Grieche wieder auferstünde, so wäre in der ganzen
neueren Literatur Hermann und Dorothea das einzige Gedicht, das wir
ihm ohne Verlegenheit anbieten dürften. Auch Rosenkranz hält wie
Humboldt und Gervinus Hermann und Dorothea in künstlerischer
Hinsicht für das vollendetste von Goethes Werken. Goethe selbst hatte
eine besondere Vorliebe für dasselbe: er konnte es, wie er in den Tag-
und Jahresheften erzählt, nie ohne Thränen der Rührung vorlesen.
Ein ähnliches Urteil spricht unser eigenes Gefühl: wir haben alle das
Gedicht, das uns hier beschäftigen soll, gelesen und genossen. Dennoch
aber erhöht diesen Genuß Mitteilung und klares Bewußtsein seiner
Quellen; die Wirkung, die ein schönes Gedicht auf uns macht, strebt
von selbst nach einem angemessenen Ausdruck, und da ein wahrhaftes
Kunstwerk, wie Hermann und Dorothea, immer halb unbewußt von
dem künstlerischen Genius geschaffen ist, gleichsam eine
Unendlichkeit von Absichten in sich birgt, so ist es zwar schwer, ein so
beseeltes und ganz individuelles Gebilde treffend zu charakterisieren,
gleichsam die Fäden seiner Textur aufzuwinden und den Eindruck, den
es macht, kritisch in die einzelnen wirkenden Motive zu zerlegen;
dennoch aber bietet es gerade durch seinen Reichtum der Auslegung
und Betrachtung die verschiedensten Seiten dar und gibt der Aesthetik
fruchtbare Gelegenheit, ihre allgemeinen Prinzipien daran zu messen.
Hermann und Dorothea ist ein Epos oder, wie Jean Paul es noch näher
bezeichnet, ein episches Idyll. Wir werden also, um dem Gedicht seine
Stelle, gleichsam seine substanzielle Heimat anzuweisen, im folgenden
uns ausführlich daran erinnern müssen, welches das Wesen und die
Gesetze der epischen Dichtung überhaupt sind; wir werden dann zu
Goethe zurückkehren und finden, daß er durch eine einzige Gunst der
Natur ganz zum epischen Dichter geboren war und daß das Wesen
seiner Dichtung mit dem Wesen der epischen Dichtung auf das
glücklichste zusammenfällt. Wir werden darauf zusehen, ob die Zeit
und Nation, in welche der Dichter fiel, dem Epos günstig war oder
nicht, welches sein Verhältnis zu den großen politischen Begebenheiten
von damals und zu der ihn umgebenden nationalen Welt war, ob es
leicht war hier einen epischen Stoff zu finden und ob der Dichter eine
glückliche Wahl dabei getroffen.
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