60-65
Gang der Fabel 65-85
Charaktere 86-100
Sitten und Lebenssphäre 100-114
Diktion 114-129
Vers 129-139
Andre deutsche Epen (Luise von Voß, Messias von Klopstock) zur
Vergleichung 139-146
Anmerkungen 147-164
Einleitung 148-150
Hermann und Dorothea 150-156
Wahl des Stoffes. Warum kein politischer 156-158
Stoffquelle, Entstehung und Aufnahme 158-159
Ort und Zeit 159
Gang der Fabel 159
Charaktere 160
Sitten und Lebenssphäre 160-161
Diktion 161-162
Vers 162-163
Andre deutsche Epen (Luise von Voß, Messias von Klopstock) zur
Vergleichung 163-164
Einleitung.
Wieder über Goethe! ruft vielleicht mancher und wirft das Buch
ungeduldig beiseite. Aber was haben wir denn sonst noch Großes, was
besitzen wir bis jetzt noch andres, nicht im Traum, sondern wahrhaft,
als Goethe? Wie die Franzosen sich das Bild der Revolution, ihres
Heroenzeitalters, in immer neuer Beleuchtung vorführen, so füllen wir
Bibliotheken über die Literatur und vornehmlich über deren größte
Gestalt, den einzigen wirklichen Dichter, der uns zu teil geworden. Jch
bringe meinen Beitrag zu den vielen andern. Der fromme Beter, aus
dem Tempel tretend, pflanzt dankbar auch sein Bäumchen, so daß im
Lauf der Jahre ein immer herrlicherer Hain das Heiligtum umrauscht.
Noch ist die Arbeit, Goethe in das Bewußtsein der Nation einzuführen,
lange nicht vollendet. Wer die herrschende Bildung beobachtet hat,
muß gestehen, daß die große Mehrzahl gar nicht ahnt, wieviel sie an
Goethe besitzt. Seine Dichtungen sind berühmt und von allen gekannt,
genossen und empfunden sind sie nur von wenigen. Sinn für Poesie ist
überhaupt nicht weiter verbreitet als Talent z. B. für Mathematik. Die
meisten haften an dem falschen Golde rhetorischen Schmuckes, werden
kindisch gelockt von den Flittern der Diktion und, wenn es sich um
Gestalten handelt, nur durch abstrakte Idealität berührt und fortgerissen.
Selbst unter denen, die als Goethes Ausleger aufgetreten sind, haben
sich nicht alle durch das Entzücken des poetischen Genusses und das
Streben, auch andre daran teilnehmen zu lassen, zu ihrem Amte berufen
geglaubt, sondern wurden vielmehr durch schulphilosophische
Bedürfnisse, religiöse, politische, soziale Standpunkte, also mehr durch
ein scholastisches und praktisches Interesse dazu geführt. Sie suchten
an jenen Dichtungen die Gelegenheit, sie drängten sich den Inhalt
schon mitbringend an sie heran, statt in unbefangener Hingabe die
schöne Menschlichkeit und reine Darstellung auf sich wirken zu lassen
und der Empfindung andrer näher zu bringen. So ist in den zahlreichen
Schriften über Faust zwar jedes Wort, das in des Helden Monologen, in
den Gesprächen mit Mephistopheles und Wagner ausgesprochen wird,
zu einem heiligen Text geworden, zu dem die Noten und Exkurse sich
häuften und welcher zu aller Art von Schriften und Verhandlungen
Sprüche liefert, aber die wundervollen Szenen zwischen Faust und
Gretchen, die Blüte des Werkes, wo die volle dichterische
Schöpfungsmacht das ergreifendste individuelle Bild von Lieb und
Leid des Menschenlebens vor uns hinwirft, bilden weiße Seiten, bei
denen die geschäftige Interpretation schweigt. Wenn es Rötscher über
sich vermag, bei Gretchens Gestalt und über sie hinweg an Unschuld,
Fall und Erlösung des Menschengeschlechts, die durch sie dargestellt
werden, zu denken, so müssen wir an seinem poetischen Sinne ebenso
sehr zweifeln, als wenn Viehoff in seinem neusten Kommentar zu
Goethes Gedichten die Schönheit derselben in Zäsur und Alliteration,
iambischem und trochäischem Rhythmus, in das Vorherrschen dieses
und jenes Vokals u. s. w. setzt. So findet Karl Grün die volle
Bedeutung des Goetheschen Geistes in Wilhelm Meisters
Wanderjahren, im zweiten Teil des Faust u. s. w., während z. B.
Hermann und Dorothea von ihm kaum berührt wird. Auch ihm also
liegt die soziale Wahrheit näher am Herzen als die poetische Kunst: er
kann gleichgültig vorübergehen, wo die letztere unwiderstehlich fesselt;
er kann liebevoll verweilen, wo sie erloschen ist. Sind so die Ausleger
nicht immer das Organ reiner Freude an der Gegenwart der Poesie
geworden, so findet man unter der großen Menge der Leser und
Urteiler überwundene Meinungen und längst verlassene Standpunkte
noch so sehr in vollem Bestand, daß es fortwährend not thut, die in
engerem Kreise gewonnene ästhetische Einsicht von neuem
vorzutragen. Der moralisch-didaktische Gesichtspunkt einem
Dichterwerk gegenüber, die religiösen Abstraktionen, der Dualismus
zwischen Sinnlichem und Uebersinnlichem, Leib und Seele, Irdischem
und Himmlischem, der alle Kunst bis zur Wurzel zerstört, die Flucht
aus der vollen Wirklichkeit der Natur und des Lebens, das Unvermögen,
in der ersteren den innerlich bildenden Geist, in den Gestalten des
letzteren die sie hervortreibende und beseelende Sittlichkeit zu
empfinden -- dies alles ist in der großen Masse der Gebildeten noch so
wenig erschüttert, daß es noch vieler und wiederholter Anwendung der
Wahrheit auf einzelne Punkte bedarf, ehe sie sich des Sieges wird
rühmen dürfen.
Unter den Goetheschen Dichtungen hat übrigens Hermann und
Dorothea verhältnismäßig nur wenig von sich reden gemacht. Voll
klarer Einsicht in das Wesen des homerischen Epos ist die gleich nach
Erscheinen des Goetheschen Werkes verfaßte Rezension von August
Wilhelm Schlegel. Geistvolle Bemerkungen enthält ein Aufsatz über
Hermann und Dorothea von Yxem, den wir, wie billig, für unsre
Darstellung benutzt haben. Nur geringe Belehrung
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