Ueber Goethes Hermann und Dorothea | Page 7

Victor Hehn
Vielmehr fordert das Gesetz aller Poesie auch beim Epos, da? der allgemeine Geist sich zu einer bestimmten epischen Begebenheit zusammenziehe und sich individualisiere, und da? nicht das ganze Volk oder gar die Menschheit, sondern ein bestimmter Held Subjekt derselben sei. Das nationale Leben wird uns im Epos in einer einzelnen begrenzten That vorgeführt; es kommt durch eine bestimmte Situation, durch bestimmte Zwecke und Handlungen als ein konkretes Individualbild zur Anschauung. Einen Konflikt und eine Kollision verlangt auch das Epos, aber dieser Konflikt ist von dem dramatischen sehr verschieden. Im Drama stehen sittliche M?chte in Kollision; das Subjekt, das sich auf dem Punkte ihres Zusammensto?es befindet, geht zu Grunde. Oder das Individuum macht sein individuelles Pathos, den inneren Drang seiner Leidenschaft der objektiven Ordnung der Dinge gegenüber geltend; es kreuzt mit seinen subjektiven Zwecken die des Schicksals und der sittlichen Notwendigkeit und macht untergehend die tragische Erfahrung seiner Endlichkeit. In der epischen Welt aber gibt es noch keinen so tiefen Zwiespalt; der Lauf des Schicksals tritt dem Streben des Einzelnen nicht entgegen, sondern hebt und f?rdert es. Die epische Kollision vernichtet daher den Frieden des Menschen nicht; ohne die harmonische Entfaltung des Volksganzen zu st?ren, bringt sie nur eine belebende Bewegung hervor. Eine passende epische Kollision ist daher der Krieg, in welchem die Nation ihre Kr?fte übt und Wachstum und Entfaltung beschleunigt fühlt; nur darf der Krieg kein innerer, im Scho?e des Volks selbst ausgebrochener sein, kein Dynastieenkampf wie bei Shakespeare, kein Bruderzwist um das Erbe des Thrones, denn dann stehen wir auf dem tiefen Boden der dramatischen Kollision. Auch Entdeckungszüge wie die der Portugiesen bei Camoens, eine Kreuzfahrt wie bei Tasso sind ein sch?ner epischer Stoff: auch dort türmen sich die Hindernisse, die Gefahren nur auf, um überwunden zu werden, und der Widerstand der Wirklichkeit dient nur dazu bei jedem Schritte sich dieser Wirklichkeit vollst?ndiger und glücklicher zu bem?chtigen. Auf diesem allgemeinen Boden epischer Kollision tritt nun die ganz individuelle epische Begebenheit auf, und in ihr bewegen sich die epischen Charaktere. Auch der Charakter des epischen Helden schwebt wie die Begebenheit in der Mitte zwischen der nationalen Basis und seiner individuellen Besonderheit. Er ist, was jeder sein kann, was jeder im Grunde ist: dies in ihm Waltende ist nichts andres als die allgemeine Lebensgrundlage, die alle tr?gt. Sein Streben ist kein Kampf, weder mit dem Schicksal noch mit der ihn umgebenden Volksnatur. Er will nicht die Welt umgestalten und etwas erst noch in seinen Gedanken Vorhandenes realisieren, sondern in der Realit?t selbst wirkend, folgt er dem Zuge der Dinge mehr in ein ?u?eres Geschehen verflochten als durch wirkliche That, die immer in dem Innern des Subjekts entspringend in der Welt der Objekte sich durchsetzt, die Natur nach Zwecken seiner Freiheit umformend. Im Epos ist daher kein verwickeltes psychologisches Getriebe, kein verstecktes Motiv; die Handlungen flie?en aus dem Instinkt des Ganzen. Die erz?hlte Begebenheit str?mt ruhig an uns vorüber; der ?u?ere Vorgang, Umst?nde, Zuf?lle, Ereignisse, dasjenige, was dem Helden begegnet, nicht der Held selbst als eine innerlich von Absichten bewegte oder von streitenden Motiven aus dem Gleichgewicht gebrachte Pers?nlichkeit ist im Epos das Wesentliche. Danach lassen sich alle geschichtlichen Charaktere in epische und dramatische einteilen. Der epische Held ist nur eine Konzentration der Nation und der Zeit; was er will und fühlt, ist Wille und Gefühl aller. Er ist daher immer glücklich, er ist der Günstling des Geschickes und die G?tter sind mit ihm. Die Macht der Umst?nde tr?gt ihn von Erfolg zu Erfolg, Hindernisse und Hemmungen weichen, sein eigenes Innere ist offen, harmonisch bewegt; keine individuelle Willkür rei?t ihn los von der Lebensgemeinschaft mit allen übrigen, und, indem er ein umfassendes Werk mit Gr??e vollführt, ist diese Vollführung vielmehr das bewu?tlose Werden der Dinge selbst. Bei den tragischen Charakteren, die der reine Gegensatz der epischen sind, ist die religi?se Harmonie zur Emp?rung geworden. In Zeitaltern vorgeschrittener Zivilisation isoliert sich der begabte weiter blickende Genius; er fühlt der stumpfen Masse gegenüber h?here Einsicht, überwiegende Kraft in sich; er bildet den ersten Strahl des kommenden Zeitalters; in dem Kampf gegen das Bestehende f?llt er als Opfer; der z?hen Gewohnheit, der Beschr?nktheit gegenüber verblüht er langsam; oder er überwindet den Widerstand, steigt zum h?chsten Glanz empor und will die Welt nach seinen Zwecken zwingen. Aber da ereilt ihn nach dem tiefsinnigen Ausdruck der Alten der Neid der G?tter, die nicht dulden k?nnen, da? ein Sterblicher sich mit ihnen messe und das Steuer der Weltregierung ihren H?nden entrei?e. Indem er sein individuelles Pathos zum alleinigen Gesetz macht, st?rt er den Gesamtkomplex der sittlichen M?chte, die in gegenseitiger Durchdringung das Leben bilden; seine Kraft und Gr??e nach einer Seite ist seine Schw?che nach der andern; die durchbrochene Ordnung stellt sich wieder her, die Massen reagieren gegen ihn und, wo er am h?chsten stand, stürzt er am tiefsten; in dem Augenblick, wo seine Pl?ne dem Gelingen
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