zur Bibel des Volkes. So blieb Homer für immer der heilige Lehrer der Griechen, dessen Aussprüche wie Entscheidungen eines Gottes galten, auf den sich jeder berief, der das Fundament wurde, auf welches sich die gesamte poetische, religi?se und sittliche Bildung der Griechen auferbaute. Homer schuf nach Herodot den Griechen ihre G?tter, die Tragiker entnahmen ihm die Fabel ihrer Stücke, die Philosophen ma?en ihre Ansichten an ihm; Grenzstreitigkeiten wurden nach seinen Aussprüchen geschlichtet; Lykurg legte ihn der altdorischen Ordnung, die er befestigte, zu Grunde; in Athen war Homer das Erziehungsbuch der Jugend. Eine ?hnliche epische Bibel hat fast jede bedeutende Nation in einem gewissen Stadium ihrer Geschichte hervorgebracht: die Indier haben ihre gro?en Epen wie die Griechen ihren Homer; so erzeugten die Italiener gleichfalls am Anfangspunkt ihres nationalen Werdens ihren Dante, für dessen Erkl?rung sogar eigene Lehrstühle an den Universit?ten errichtet wurden; so die Portugiesen ihren Camoens, der ebenfalls in einer Periode des Aufschwunges der portugiesischen Volksmacht lebte und diesen Aufschwung, n?mlich die Entdeckungsfahrten nach Indien in seine Lusiaden aufnahm; und nicht anders wurde im deutschen Mittelalter Wolfram von Eschenbachs Parzival der treue und vollst?ndige Spiegel des damals herrschenden mystischen Rittertums und wurde daher auch das am allgemeinsten verbreitete Buch, Genu? und Vorbild für alle. Manchen Bibeln fehlt die epische Form, z. B. dem alten Testament, wo auch niedergelegt ist, was das jüdische Volk an Sage und Geschichte, an Poesie und Nachdenken besa?, obgleich im Alten Testament das Religi?se zu sehr vorherrscht, als da? wir es für ein wirkliches Epos erkl?ren k?nnten. Ebenso verh?lt es sich mit den religi?sen Grundbüchern der Perser und Araber, dem Zendavesta und dem Koran. Eben aber weil das Epos auf diese Weise den ganzen geistigen Schatz eines Volkes in sich schlie?t, rührt es in seiner reinsten Gestalt auch nicht von einem einzelnen Dichter her, sondern ist aus Rhapsodieen, Volksges?ngen, epischen Bruchstücken aller Art zusammengeflossen. Wie Homer sind auch die Nibelungen und Gudrun, auch das finnische Epos auf diese Weise entstanden. Hegel widersetzt sich zwar mit Nachdruck der Wolfschen Hypothese, wonach die Ilias und Odysse aus gesonderten Teilen erst sp?ter zusammengesetzt worden: aber er thut dies nicht aus Gründen historischer Kritik, sondern weil er mit Recht glaubte, die Einheit sei einem Gedicht unerl??lich und ein wahrhaftes Kunstwerk müsse ein geschlossenes Ganzes bilden. Allein die Einheit braucht deshalb nicht verloren zu gehen: es kommt durch die Gleichartigkeit des in der epischen Zeit alle Einzelnen beherrschenden Volksgeistes und seiner Sage in die getrennten Bruchstücke von selbst Einheit des Tones und lebendiger Zusammenhang; ferner ist ja das Epos in der Gestalt, wie es den sp?teren Geschlechtern überliefert wird, das Werk eines Ordners und Zusammensetzers (Diaskeuasten), der nach einem bestimmten Gedanken verf?hrt, welcher in den Bruchstücken selbst enthalten ist. So konnten die Ilias und Odyssee, obgleich sie nur eine Konkretion alter Heldenges?nge und epischer Hymnen sind, dennoch den strengen Zusammenhang haben, dessen Fugen nur das gesch?rfte kritische Auge an manchen Stellen entdeckt. Umgekehrt fehlt es in manchen reflektierten sp?teren Epen, obgleich sie von einem Dichter herstammen, an der n?tigen inneren Gleichartigkeit. Die Aeneis des Virgil z. B. besitzt die künstlerische Einheit nicht; die Geschichte von der Dido z. B. f?llt aus dem epischen Ton heraus und ist eine ganz tragische Episode. Auch Klopstocks Messias ist, weil der Dichter ungef?hr zwanzig Jahre daran arbeitete, sehr disparat in seinen einzelnen Teilen. Gerade wenn das Gedicht das unmittelbare Produkt des naiv dichtenden Volkes ist, wird es in sich zusammenstimmen, so lang es auch sei. Das echte Epos wird immer das Ansehen haben, als wenn das Volk selbst mit dunklem Triebe nach Selbstdarstellung es geschaffen: der Einzelne, der daran gearbeitet, verliert sich; das Nibelungenlied hat sich selbst gedichtet, es ist erwachsen. Daher sagt Jakob Grimm sehr wahr: es gibt gute und schlechte lyrische Gedichte, gute und schlechte Dramen, aber dem echten Epos steht nur ein falsches gegenüber. Dies ist der Mangel z. B. bei Virgil: er ist ein künstlicher gelehrter Dichter, der an die Wahrheit der Dinge, die er erz?hlt, selbst nicht glaubt; er ist in dem Bewu?tsein der von ihm geschilderten Welt nicht befangen, schafft mit Absicht, ahmt nach und stutzt seine Rede mit rhetorischen Blumen auf. Nur in einer Hinsicht zeigt er sich als wahrhaft epischen Dichter: auch ihn n?mlich durchdringt wie das ganze r?mische Volk das Bewu?tsein der Herrlichkeit dieses Volkes, seine g?ttergleiche Gr??e, der Stolz und die Pracht der Weltherrschaft. An solchen Stellen ist auch er nur ein Ausdruck seines Volkes, die Begeisterung ist keine künstliche und die Worte str?men ihm zu, daher er auch fünf Jahrhunderte hindurch in allen Schulen bei den R?mern der gefeierte Liebling blieb.
Indem wir nun mit Recht das Epos für das poetische Totalbild eines Volkes und einer Zeit ansehen, ist dies nicht so zu verstehen, als solle das Gedicht ein ethnographisches Gem?lde sein oder eine geordnete Schilderung der damals herrschenden Sitten, wie sie der Historiker unternimmt.
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