Uber die Dichtkunst | Page 7

Aristotle
erwiesen wird. Wichtiger für die Quellenfrage sind die
übrigen Stellen, aus denen man seltsamerweise bisher nicht die
Konsequenzen gezogen hat, sondern sich damit begnügte, sie als
gleichsam isolierte Äußerungen zu betrachten, die Aristoteles nur
erwähnt, um sie abzuweisen. Mit dem Motiv mag es seine Richtigkeit

haben, entspricht es doch durchaus der antiken Zitiermethode, auf einen
Vorgänger nur dann anzuspielen, und zwar meist unter dem
Deckmantel des Plurals ("einige behaupten, man sagt" u.ä.), wenn
man ihn bekämpfen oder widerlegen will. Sobald wir uns aber die
Umgebung, in der die betreffenden Stellen[7] stehen, genauer ansehen,
ergibt sich sofort daß es sich unmöglich nur um gelegentliche
Urteile handelte, sondern daß diese nur in ausführlichen
Untersuchungen über alle in unmittelbarem Zusammenhang (S.
XXIV) stehenden Fragen abgegeben sein konnten. Die Namen der
Verfasser, wie die Titel ihrer Werke, sind wie gesagt, sämtlich
verloren, es sei denn, daß wir in dem Bericht über die
Ansprüche der Dorer auf die Erfindung der Komödie (c. 3) mit
großer Wahrscheinlichkeit die Chronica des Dieuchidas von Megara,
eines älteren Zeitgenossen des Aristoteles, vermuten können.
Auch in anderen Partien der Poetik werden wir literarische Vermittler
voraussetzen müssen. So insbesondere über die
Entwicklungsgeschichte des Dramas (c. 4). Ja, in einer Kleinigkeit den
kyprischen Dialekt betreffend (c. 21, 3), dessen Kenntnis man doch
nicht ohne weiteres dem Aristoteles wird zutrauen wollen, dürfte
vielleicht der einmal als Verfasser kyprischer Glossen zitierte Glaukon
aus bisher unbestimmter Zeit sein Gewährsmann gewesen sein, falls
nicht etwa eine Reminiscenz aus Herodot (5, 9) vorliegt. Ein
ähnliches, kretisches Glossarium wird auch wohl die Quelle für c.
25, 10 gewesen sein. Und so mag Aristoteles noch mehr Einzelheiten,
auch der Theorie und Technik der Dichtkunst, seinen Vorgängern
verdanken als wir jetzt nachweisen oder vermuten können.
Aber so mannigfach auch immer diese Anregungen gewesen sein
mögen und so viel positives Wissen Aristoteles von früheren
Forschern übernommen haben mag, so trägt dennoch selbst unser
unvollständiges Kollegienheft allenthalben den echten Stempel seines
Geistes unverkennbar an der Stirn. Es enthält aber überdies so
zahlreiche geistreiche Gedanken und Lehrsätze von ewiger
Gültigkeit, daß wir die Poetik auch fernerhin als ein Meisterwerk
auf diesem Gebiete und als ein köstliches Vermächtnis eines der
größten Geistesheroen der Menschheit werden einschätzen

dürfen.
* * * * *
ARISTOTELES
ÃœBER DIE DICHTKUNST
* * * * *
KAPITEL I
1. "Wir wollen reden über die Dichtkunst, sowohl an (S. 1) (1447a)
sich, wie über ihre Arten, deren Wesen im einzelnen und wie die
dichterischen Stoffe gestaltet werden müssen, wenn anders die
Dichtung kunstvoll sein soll? ferner über Zahl und Beschaffenheit
der Teile eines Dichtwerks und desgleichen, was sonst noch in dasselbe
Untersuchungsgebiet fallen mag. Und zwar gehen wir, wie dies
naturgemäß, von dem ersten zuerst aus.
2. Das Epos also und die Dichtung der Tragödie, ferner die
Komödie, die dithyrambische Poesie und der größte Teil der
Auletik und Kitharistik, sie alle sind in ihrer Gesamtheit nachahmende
Darstellungen (Mimesis).
3. Es besteht aber unter ihnen ein dreifacher Unterschied, nämlich in
bezug auf die verschiedenen Mittel, die verschiedenen
_Gegenstände_ und die verschiedene Art der Darstellung und zwar
nicht in gleicher Weise.
[Sidenote: c. 1, 4--6. Arten und Unterschiede der Dichtung.]
4. Wie nämlich manche sowohl mit Farben als auch mit Figuren, sei
es auf Grund künstlerischer Begabung, sei es infolge einer durch
Ãœbung erlangten Geschicklichkeit andere dagegen mit der Stimme
vieles nachbildend nachahmen, so wird auch in den erwähnten
Künsten insgesamt die Nachahmung vermittelst des Rhythmus, der
Rede und der Harmonie bewerkstelligt und zwar gesondert oder

miteinander vermischt Harmonie und Rhythmus allein wenden
beispielsweise die Auletik und Kitharistik an und was es sonst noch an
Künsten derselben Art geben mag, wie z.B. die Kunst der Syrinx
(Hirtenpfeife); allein (S. 2) mit Rhythmus ohne Harmonie, die Kunst
der Tänzer, denn diese ahmen mittelst rhythmischer
Körperbewegungen Charaktereigenschaften, Gemütsstimmungen
und Handlungen nach.
5. _Die Kunstform aber, die sich bloß der Rede bedient_, sei es der
ungebundenen, sei es der metrischen und, falls der letzteren, entweder
mehrere Versmaße miteinander verbindet oder nur eine Versgattung
(1447b) anwendet, hat bis jetzt keinen Namen. Denn wir wüßten
keine gemeinsame Bezeichnung anzugeben für die Mimen eines
Sophron und Xenarchos und die _Sokratischen Gespräche_ einerseits,
noch andrerseits für eine nachahmende Darstellung in (jambischen)
Trimetern oder im elegischen Distichon oder in irgend welchen anderen
Versmaßen dieser Art. Allerdings knüpft man gewöhnlich an die
betreffende Versbezeichnung das Wort "dichten" und nennt so die
einen Elegiendichter, andere epische Dichter, indem man sie nicht auf
Grund der nachahmenden Darstellung zu Dichtern stempelt, sondern
des gemeinsamen Metrums wegen. Ja, man pflegt sogar denjenigen so
zu nennen, der irgend etwas aus der Medizin oder der
Naturwissenschaft in Versen darstellt und doch haben Homer und
Empedokles nichts miteinander gemein als das Metrum, so daß man
zwar jenen mit Eecht einen Dichter nennt, diesen aber vielmehr als
einen Naturforscher bezeichnen sollte. In ähnlicher Weise käme
auch dem der Dichtername zu, der in
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