Uber die Dichtkunst | Page 6

Aristotle

Wenn aber neuerdings in einem geistvollen und formvollendeten
Buche,[6] das sich nicht nur an fachkundige Leser wendet, der Versuch
gemacht worden ist, dem Verfasser der Poetik jede Originalität
abzusprechen und sie zu einem bloßen Echo platonischer Gedanken
herabzusetzen, so muß gegen diese tendenziöse Entstellung des
wirklichen Tatbestandes der schärfste Einspruch erhoben werden. Die
Widerlegung dieser Verirrung eines sonst trefflichen Gelehrten im
Einzelnen kann hier nicht unternommen werden, ich muß mich damit
bescheiden, auf einige wenige Punkte aufmerksam zu machen, die aber
allein schon genügen dürften, die angewandte Beweisführung in
ein grelles Licht zu setzen und den Versuch selbst ad absurdum zu
führen. Angesichts seiner unten[5b] zitierten, durch nichts
gemilderten Behauptungen ist die Beobachtung geradezu verblüffend,
daß diese sich, soweit das Verhältnis des Aristoteles zu Platon
überhaupt in Frage kommen könnte, so gut wie ausschließlich
auf eine Anzahl Lehrsätze und Gedanken der ersten sechs Kapitel
beschränken! Sodann ist zu bemerken, daß Platon sich zwar mehr
oder minder ausführlich über Zweck, Wirkung, Charakter und
Ursprung der Dichtung ausgesprochen hat, daß aber von (S. XXI)
einer Technik der Dichtkunst--und das ist doch wohl unsere
Poetik--sich schlechterdings nichts findet, was dem Aristoteles als
Grundlage oder Quelle der Erkenntnis hätte dienen können. Selbst
die platonische Auffassung der nachahmenden Tätigkeit des
Künstlers (Mimesis) weicht durch ihre Verknüpfung mit der

Ideenlehre von der des Aristoteles sehr erheblich ab. Und dasselbe gilt
von einer großen Anzahl gelegentlicher Äußerungen, wie über
die furcht- und mitleiderregende Wirkung der Tragödie, über den
Unterschied zwischen dem Drama und dem Epos, über die der
Dichtung zugrundeliegenden Ursachen und über den Dithyrambus
als nicht mimetische Darstellung. Und selbst bei diesen Fragen ergibt
oft die Art der Betrachtung, daß Platon sie nicht zuerst aufgeworfen,
sondern zu anderweitig bereits erörterten literarischen Problemen
seinerseits, sei es zustimmend, sei es ablehnend, Stellung nimmt. Mit
welchen Gewaltmitteln die Abhängigkeit des Aristoteles von Platon
glaubhaft gemacht werden soll, dafür sei wenigstens ein besonders
krasses Beispiel angeführt. Mit der dem Aristoteles eigenen
analytischen Schärfe werden die Unterschiede In der nachahmenden
Darstellung aller musischen Künste festgestellt, nämlich in den
Mitteln, den Gegenständen und der Art und Weise (c. 1), eine
Einteilung, die sich auch für die sechs Teile einer kunstgerechten
Tragödie bewährt (c. 6). Diese tief durchdachte Unterscheidung soll
nun nicht nur sachlich, sondern sogar im Wortlaut dem Platon
entnommen sein. In der Rep. III 392^c schließt nämlich Sokrates
eine längere Erörterung darüber, daß in seinem Idealstaate nur
Spezialisten als Lehrer Zulaß haben sollten, mit folgenden Worten:
"Wir sind nun, was die musische Bildung anbelangt, völlig zu Ende
gekommen und haben angegeben, was ausgesprochen werden soll und
wie." Inhaltlich haben, wie (S. XXII) man sieht, diese Worte, wie auch
der ganze Zusammenhang mit der aristotelischen Betrachtung auch
nicht das mindeste gemein und auch abgesehen davon, fehlt noch
fatalerweise das dritte Glied--die Mittel! Aber durch solche
Kleinigkeiten läßt sich Finsler seine Kreise nicht stören.
Aristoteles wird wiederholt beschuldigt auch die einfachsten
Redewendungen, wo der Gedanke sich griechisch kaum anders hätte
ausdrücken lassen, dem Platon entlehnt zu haben. So z.B. daß die
Dichter Handelnde nachahmen (Rep. 10, 603°), obwohl gerade dieser
Gedanke gar nicht einmal platonischen Ursprungs sein dürfte, denn
Aristoteles sagt ausdrücklich, daß bei der Ableitung des Wortes
"Drama", von der bei Platon nirgends die Rede ist, "einige" auf eben
jene Tatsache sich berufen hätten.

Die Behauptung einer durchgängigen, fast sklavischen
Abhängigkeit des Aristoteles von Platon hält demnach vor einer
unbefangenen und vorurteilslosen Prüfung nicht Stand. Ein
Einfluß des Lehrers auf seinen Schüler in dem oben angedeuteten
Sinne soll darum keineswegs in Abrede gestellt werden, aber soweit die
uns vorliegenden Lehren der Poetik in Betracht kommen, hätte ihr
Verfasser keinerlei Veranlassung gehabt, einem "Pereant qui ante nos
nostra dixerunt" Ausdruck zu geben.
Während uns Platons Werke vollständig zum Vergleich vorliegen,
sind die sonstigen Vorgänger des Aristoteles gänzlich verschollen
und selbst Schriften wie die eines Demokrites "Ãœber die Dichtung"
und "Ãœber Rhythmen und Harmonie" oder des Sophisten Hippias
"Ãœber Musik" und "Ãœber Rhythmen und Harmonien", die auf
ähnliche Erörterungen allenfalls schließen ließen, sind für
uns nur leere Titel. Daß aber eine reiche fachmännische Literatur,
die, wie gesagt (S. XXIII) hauptsächlich aus sophistischen Kreisen
stammte, dem Aristoteles zur Verfügung stand, beweisen allein die
Frösche des Aristophanes (405), die bereits eine staunenswerte,
allgemeine Kenntnis über die Technik des Dramas von Seiten des
athenischen Theaterpublikums zur notwendigen Voraussetzung haben.
Glücklicherweise gibt unsere Poetik selbst uns noch wertvolle
Andeutungen über frühere Schriftsteller auf diesem Gebiete, denn
an nicht weniger als 12 bezw. 13 Stellen beruft sich Aristoteles
ausdrücklich auf Vorgänger und zwar fünfmal mit
Namennennung (Protagoras, Hippias von Thasos, Eukleides, Glaukon
und _Ariphrades_). Bei vier von diesen handelt es sich meist um
Einzelheiten in betreff des Versbaues und des Sprachgebrauchs, bei
Glaukon dagegen um eine von ihm unter Zustimmung des Verfassers
gegeißelte falsche Methode zahlreicher, literarischer Kritiker, die
für uns zwar namenlos sind, deren Existenz aber eben durch jenen
Ausfall
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