Tonio Kröger | Page 3

Thomas Mann
Rolle in Tonios Liebe zu Hans Hansen.
Er liebte ihn zunächst, weil er schön war; dann aber, weil er in allen
Stücken als sein eigenes Widerspiel und Gegenteil erschien. Hans
Hansen war ein vortrefflicher Schüler und außerdem ein frischer Gesell,
der ritt, turnte, schwamm wie ein Held und sich der allgemeinen
Beliebtheit erfreute. Die Lehrer waren ihm beinahe mit Zärtlichkeit
zugetan, nannten ihn mit Vornamen und förderten ihn auf alle Weise,
die Kameraden waren auf seine Gunst bedacht, und auf der Straße
hielten ihn Herren und Damen an, faßten ihn an dem Schopfe
bastblonden Haares, der unter seiner dänischen Schiffermütze
hervorquoll, und sagten: »Guten Tag, Hans Hansen, mit deinem netten
Schopf! Bist du noch Primus? Grüß Papa und Mama, mein prächtiger
Junge...«
So war Hans Hansen, und seit Tonio Kröger ihn kannte, empfand er
Sehnsucht, sobald er ihn erblickte, eine neidische Sehnsucht, die
oberhalb der Brust saß und brannte. Wer so blaue Augen hätte, dachte
er, und so in Ordnung und glücklicher Gemeinschaft mit aller Welt
lebte wie du! Stets bist du auf eine wohlanständige und allgemein
respektierte Weise beschäftigt. Wenn du die Schulaufgaben erledigt
hast, so nimmst du Reitstunden oder arbeitest mit der Laubsäge, und
selbst in den Ferien, an der See, bist du vom Rudern, Segeln und
Schwimmen in Anspruch genommen, indes ich müßiggängerisch und
verloren im Sande liege und auf die geheimnisvoll wechselnden
Mienenspiele starre, die über des Meeres Antlitz huschen. Aber darum
sind deine Augen so klar. Zu sein wie du...
Er machte nicht den Versuch, zu werden wie Hans Hansen, und
vielleicht war es ihm nicht einmal sehr ernst mit diesem Wunsche.
Aber er begehrte schmerzlich, so wie er war, von ihm geliebt zu
werden, und er warb um seine Liebe auf seine Art, eine langsame und
innige, hingebungsvolle, leidende und wehmütige Art, aber von einer
Wehmut, die tiefer und zehrender brennen kann als alle jähe
Leidenschaftlichkeit, die man von seinem fremden Äußeren hätte
erwarten können.
Und er warb nicht ganz vergebens, denn Hans, der übrigens eine

gewisse Überlegenheit an ihm achtete, eine Gewandtheit des Mundes,
die Tonio befähigte, schwierige Dinge auszusprechen, begriff ganz
wohl, daß hier eine ungewöhnlich starke und zarte Empfindung für ihn
lebendig sei, erwies sich dankbar und bereitete ihm manches Glück
durch sein Entgegenkommen -- aber auch manche Pein der Eifersucht,
der Enttäuschung und der vergeblichen Mühe, eine geistige
Gemeinschaft herzustellen. Denn es war das Merkwürdige, daß Tonio,
der Hans Hansen doch um seine Daseinsart beneidete, beständig
trachtete, ihn zu seiner eigenen herüberzuziehen, was höchstens auf
Augenblicke und auch dann nur scheinbar gelingen konnte...
»Ich habe jetzt etwas Wundervolles gelesen, etwas Prachtvolles...«,
sagte er. Sie gingen und aßen gemeinsam aus einer Tüte Fruchtbonbons,
die sie beim Krämer Iwersen in der Mühlenstraße für zehn Pfennige
erstanden hatten. »Du mußt es lesen, Hans, es ist nämlich >Don
Carlos< von Schiller... Ich leihe es dir, wenn du willst...«
»Ach nein«, sagte Hans Hansen, »das laß nur, Tonio, das paßt nicht für
mich. Ich bleibe bei meinen Pferdebüchern, weißt du. Famose
Abbildungen sind darin, sage ich dir. Wenn du mal bei mir bist, zeige
ich sie dir. Es sind Augenblicksphotographien, und man sieht die Gäule
im Trab und im Galopp und im Sprunge, in allen Stellungen, die man
in Wirklichkeit gar nicht zu sehen bekommt, weil es zu schnell geht...«
»In allen Stellungen?« fragte Tonio höflich. »Ja, das ist fein. Was aber
>Don Carlos< betrifft, so geht das über alle Begriffe. Es sind Stellen
darin, du sollst sehen, die so schön sind, daß es einem einen Ruck gibt,
daß es gleichsam knallt...«
»Knallt es?« fragte Hans Hansen... »Wieso?«
»Da ist zum Beispiel die Stelle, wo der König geweint hat, weil er von
dem Marquis betrogen ist... aber der Marquis hat ihn nur dem Prinzen
zuliebe betrogen, verstehst du, für den er sich opfert. Und nun kommt
aus dem Kabinett in das Vorzimmer die Nachricht, daß der König
geweint hat. >Geweint?< >Der König geweint?< Alle Hofmänner sind
fürchterlich betreten, und es geht einem durch und durch, denn es ist
ein schrecklich starrer und strenger König. Aber man begreift es so gut,

daß er geweint hat, und mir tut er eigentlich mehr leid als der Prinz und
der Marquis zusammengenommen. Er ist immer so ganz allein und
ohne Liebe, und nun glaubt er einen Menschen gefunden zu haben, und
der verrät ihn...«
Hans Hansen sah von der Seite in Tonios Gesicht, und irgend etwas in
diesem Gesicht mußte ihn wohl dem Gegenstande gewinnen, denn er
schob plötzlich wieder seinen Arm unter den Tonios und fragte:
»Auf welche Weise verrät er ihn denn, Tonio?«
Tonio geriet in Bewegung.
»Ja, die Sache ist«, fing er an, »daß alle Briefe nach Brabant und
Flandern...«
»Da kommt Erwin Jimmerthal«, sagte Hans.
Tonio verstummte. Möchte ihn doch, dachte er, die Erde verschlingen,
diesen Jimmerthal! Warum muß er kommen und uns stören! Wenn er
nur
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