Tonio Kröger | Page 2

Thomas Mann
Worten.
»Ja, wir gehen nun also über die Wälle!« sagte er mit bewegter Stimme.
»Über den Mühlenwall und den Holstenwall, und so bringe ich dich
nach Hause, Hans... Bewahre, das schadet gar nichts, daß ich dann
meinen Heimweg allein mache; das nächste Mal begleitest du mich.«
Im Grunde glaubte er nicht sehr fest an das, was Hans gesagt hatte, und
fühlte genau, daß jener nur halb soviel Gewicht auf diesen Spaziergang
zu zweien legte wie er. Aber er sah doch, daß Hans seine
Vergeßlichkeit bereute und es sich angelegen sein ließ, ihn zu
versöhnen. Und er war weit von der Absicht entfernt, die Versöhnung
hintanzuhalten...

Die Sache war die, daß Tonio Hans Hansen liebte und schon vieles um
ihn gelitten hatte. Wer am meisten liebt, ist der Unterlegene und muß
leiden, -- diese schlichte und harte Lehre hatte seine vierzehnjährige
Seele bereits vom Leben entgegengenommen; und er war so geartet,
daß er solche Erfahrungen wohl vermerkte, sie gleichsam innerlich
aufschrieb und gewissermaßen seine Freude daran hatte, ohne sich
freilich für seine Person danach zu richten und praktischen Nutzen
daraus zu ziehen. Auch war es so mit ihm bestellt, daß er solche Lehren
weit wichtiger und interessanter achtete als die Kenntnisse, die man
ihm in der Schule aufnötigte, ja, daß er sich während der
Unterrichtsstunden in den gotischen Klassengewölben meistens damit
abgab, solche Einsichten bis auf den Grund zu empfinden und völlig
auszudenken. Und diese Beschäftigung bereitete ihm eine ganz
ähnliche Genugtuung, wie wenn er mit seiner Geige (denn er spielte die
Geige) in seinem Zimmer umherging und die Töne, so weich, wie er sie
nur hervorzubringen vermochte, in das Plätschern des Springstrahles
hinein erklingen ließ, der drunten im Garten unter den Zweigen des
alten Walnußbaumes tänzelnd emporstieg...
Der Springbrunnen, der alte Walnußbaum, seine Geige und in der
Ferne das Meer, die Ostsee, deren sommerliche Träume er in den
Ferien belauschen durfte, diese Dinge waren es, die er liebte, mit denen
er sich gleichsam umstellte und zwischen denen sich sein inneres
Leben abspielte, Dinge, deren Namen mit guter Wirkung in Versen zu
verwenden sind und auch wirklich in den Versen, die Tonio Kröger
zuweilen verfertigte, immer wieder erklangen.
Dieses, daß er ein Heft mit selbstgeschriebenen Versen besaß, war
durch sein eigenes Verschulden bekanntgeworden und schadete ihm
sehr, bei seinen Mitschülern sowohl wie bei den Lehrern. Dem Sohne
Konsul Krögers schien es einerseits, als sei es dumm und gemein,
daran Anstoß zu nehmen, und er verachtete dafür sowohl die
Mitschüler wie die Lehrer, deren schlechte Manieren ihn obendrein
abstießen, und deren persönliche Schwächen er seltsam eindringlich
durchschaute. Andererseits aber empfand er selbst es als ausschweifend
und eigentlich ungehörig, Verse zu machen, und mußte all denen
gewissermaßen recht geben, die es für eine befremdende Beschäftigung

hielten. Allein das vermochte ihn nicht, davon abzulassen...
Da er daheim seine Zeit vertat, beim Unterricht langsamen und
abgewandten Geistes war und bei den Lehrern schlecht angeschrieben
stand, so brachte er beständig die erbärmlichsten Zensuren nach Hause,
worüber sein Vater, ein langer, sorgfältig gekleideter Herr mit
sinnenden blauen Augen, der immer eine Feldblume im Knopfloch trug,
sich sehr erzürnt und bekümmert zeigte. Der Mutter Tonios jedoch,
seiner schönen, schwarzhaarigen Mutter, die Consuelo mit Vornamen
hieß und überhaupt so anders war als die übrigen Damen der Stadt, weil
der Vater sie sich einstmals von ganz unten auf der Landkarte
heraufgeholt hatte, -- seiner Mutter waren die Zeugnisse
grundeinerlei...
Tonio liebte seine dunkle und feurige Mutter, die so wunderbar den
Flügel und die Mandoline spielte, und er war froh, daß sie sich ob
seiner zweifelhaften Stellung unter den Menschen nicht grämte.
Andererseits aber empfand er, daß der Zorn des Vaters weit würdiger
und respektabler sei, und war, obgleich er von ihm gescholten wurde,
im Grunde ganz einverstanden mit ihm, während er die heitere
Gleichgültigkeit der Mutter ein wenig liederlich fand. Manchmal
dachte er ungefähr: Es ist gerade genug, daß ich bin, wie ich bin, und
mich nicht ändern will und kann, fahrlässig, widerspenstig und auf
Dinge bedacht, an die sonst niemand denkt. Wenigstens gehört es sich,
daß man mich ernstlich schilt und straft dafür, und nicht mit Küssen
und Musik darüber hinweggeht. Wir sind doch keine Zigeuner im
grünen Wagen, sondern anständige Leute, Konsul Krögers, die Familie
der Kröger... Nicht selten dachte er auch: Warum bin ich doch so
sonderlich und in Widerstreit mit allem, zerfallen mit den Lehrern und
fremd unter den anderen Jungen? Siehe sie an, die guten Schüler und
die von solider Mittelmäßigkeit. Sie finden die Lehrer nicht komisch,
sie machen keine Verse und denken nur Dinge, die man eben denkt und
die man laut aussprechen kann. Wie ordentlich und einverstanden mit
allem und jedermann sie sich fühlen müssen! Das muß gut sein... Was
aber ist mit mir, und wie wird dies alles ablaufen?
Diese Art und Weise, sich selbst und sein Verhältnis zum Leben zu

betrachten, spielte eine wichtige
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