Stufen | Page 6

Christian Morgenstern
Jugend geführt hat. (Gelegentlich der herrlichen
Schilderung der Krapotkinschen Jugend.)
* * * * *
Es ist bitter, sich sagen zu müssen, daß man zwischen 35 und 45 zu
erledigen hat, was man zwischen 45 und 60 hätte sollen erledigen
können.
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Ihr macht mir aus meiner gleichmäßigen Höflichkeit gegen alle einen
Vorwurf. Aber, was wollt ihr! Es gibt gewiß nicht gar so viele, denen
es leicht fällt, die Menschen zu lieben. Nun, mir fällt es zuweilen leicht:
warum sollte ich da gewaltsam unfreundlich zu ihnen sein? Ich finde an
jedem etwas, was mir Sympathie oder doch Interesse abnötigt; und
würde nicht mein Gefühl vom Einssein mit allem eine Lüge sein, wenn
ich irgendeinem Mitmenschen gegenüber völlig kalt bleiben könnte?
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Ich bin der leichterregbarste und unbeeinflußbarste Mensch, den ich
kenne.
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Ist es ein Wunder, wenn dann und wann eine Nuance von Hochmut in
einem auftaucht. Wenn man der offenbaren Niedertracht gegenüber

zuweilen eisig wird -- das Einzige, das ihr nicht zu Gebote steht. Die
Menge weiß nichts von der Tiefe der Demut, die ein einzelner
empfindet, der sich ganz zu erkennen strebt.
* * * * *
Luther spricht einmal von 'bösen Gedanken', deren Kommen man nicht
hindern könne, aber die es gelte, vor der Schwelle bleiben zu lassen.
Der Satz (dessen schöner kräftiger Wortlaut mir im Augenblick leider
nicht gegenwärtig) ist mir oft im Leben ein Trost gewesen; denn ich
habe von früh auf, d.h. wohl etwa von meinem 14. Jahr an, daran
gelitten, daß in der Reihe meiner Assoziationen plötzlich zuweilen ein
'häßlicher Gedanke', eine häßliche Vorstellung auftauchte, die ich
sofort als solche erkannte, ohne indes die Macht zu besitzen, ihr
auszuweichen, ja ihr Wiedererscheinen zu hindern.
* * * * *
Es wäre vielleicht der richtige Augenblick, ein Tagebuch zu beginnen.
Draußen regnet es ununterbrochen seit neun Stunden und bringt mir
meine Einsamkeit erdrückend zum Bewußtsein. Heute Nachmittag
durchfuhr es mich: wenn ich meine Gedanken und mein Schaffen nicht
hätte, wie würde ich dann wohl solch ein Krankenleben ertragen
können. Und ich bin krank, wenn ich es auch fortwährend wieder
vergesse und mitten in meiner Krankheit Stunden, Tage, Wochen
vollkommener Gesundheit durchlebe, Zeiten voll herrlichsten Blühens,
in denen der Zerfall in mir gleichsam überblüht, hinweggesiegt wird
von einem Frühling, der Herbst und Winter des Leibes nicht anerkennt,
der die Ordnung der Natur vergewaltigt und, als unüberwindliche
immer wieder auferstehende Lebenskraft mich über mich selbst
hinwegretten zu wollen scheint. Aber dann kommt ein Spätnachmittag
mit seiner gefährlichen Muße, dann kommt ein nasser, trübseliger Tag
wie dieser, und mit dem Vergessen dessen, 'was ist', ist es vorbei. Ich
sehe ihn vor mir, meinen treusten Begleiter und Verfolger, den
seltsamsten Kauz der Welt. Seine Beschäftigung besteht seit zehn, seit
vierzehn Jahren darin, mich mit einer feinen Federpose in der Luftröhre
zu reizen, gleich als wünschte er auf Erden nichts, als immer von
neuem, Stunde um Stunde, Tag um Tag, Jahr um Jahr meine Stimme zu
hören, lediglich die Stimme, unartikuliert, tierisch, ohne Form, ohne
Inhalt, wie er denn wohl auch selbst nur ein tierischer Geist sein mag,
ein Gespenst ohne Hirn, nichts als fixe Idee von oben bis unten und ich

sein einziges Ziel, sein einziger Lebenszweck.
Es berührt mich eigentümlich, wenn meine Freunde künftige Pläne vor
mir ausbreiten. Die einen denken sich ein kleines Haus für mich aus in
ihrer Nachbarschaft, die andern wollen mich weiß Gott wohin haben.
Vielleicht, vielleicht. Aber ich gebe mir höchstens noch zehn Jahre.
Und diese zehn Jahre haben ihre Bestimmung, und die ist kaum:
Nachbar zu werden und Besuchsreisen zu machen. Am meisten
schmerzt mich, was ich von dichterischen Möglichkeiten alles fallen
lassen muß. Zum Drama werde ich nie gelangen, ich habe von Natur
nicht das Zeug dazu und mich auf Drama hinzudisziplinieren, dazu
fehlt, wie gesagt, Zeit und dann auch Energie. Mein Widerwille
nämlich gegen richtiges, zusammenhängendes 'Schreiben' ist allzu groß.
Daran wird auch mein Roman scheitern. Ich bin Gelegenheitsdichter
und nichts weiter.
* * * * *
Ihr wollt meinen Platz wissen? Überall, wo gekämpft wird.
* * * * *
Meine Methode, ein Wort durch den Gestus zu finden.
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Niemand war und ist mir eine empfindlichere Geißel als der richterlich
geartete Mitmensch. Er ist für mich der personifizierte böse Blick. Vor
ihm erschrickt alles Lebendige in mir so tief, als hätte der Tod selbst es
gestreift. So mag eine Pflanze aufhören zu wachsen, wenn sie ein
schlimmer Zauberer anhaucht. Sie will gern von Wind, Regen und
Kälte vernichtet werden, und wenn sie jemand zertritt, so wird sie es als
etwas Natürliches hinnehmen, aber sich bei lebendigem Leibe von
einem andern lebenden Wesen schlechtweg in Frage stellen, verneinen,
für unfähig, für einen Irrtum erklären lassen zu müssen und das nicht
etwa unter einem Feuer
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