Stufen | Page 5

Christian Morgenstern
*

Der ganze Wahnwitz unseres modernen Wohnens (ja Lebens) steigt mir
aus dem Bild meines eigenen Umzugs auf: Wäre es nicht würdiger,
sein bißchen Hab und Gut in einer Erdhöhle, die einem aber für immer
gehört, wenn sie nicht ein Naturereignis vernichtet, zu bergen, als mit
seinen Bündeln und Kisten durch prahlende Burgen zu irren, alle zwei,
drei Jahre durchschnittlich den in festgemauerten Gelassen Seßhaften
zu spielen, allen Ernst und alle Liebe zu einem eigenen Heim an teuer
gemietete Wände zu verschwenden, die einem nie gehören können, die
uns ewigen Nomaden Verhältnisse vortäuschen, die für uns eben nur
erlogen, nur uneingestandene Kulisse sind. Mein Wohnungsideal ist
das Zelt. Nur so weit möchte ich es noch bringen.
* * * * *
Ich leide oft sehr an der Art meines Humors. Meine ewige
Fragestellung, ob nicht jeder Humor ein Quantum Philistrosität
einschließt.

1906
Wenn ich heute stürbe, glaube ich, alt genug geworden zu sein. Ich bin
dann wenigstens alt genug geworden, um sterben zu können.
* * * * *
Warum muß ich so unaufhörlich unter mir und anderen leiden! Meine
Seele ist fortwährend das Spiel über sie hinziehender Schatten.
* * * * *
Für mich gibt es nur ein Mittel, um die Achtung vor mir selbst nicht
einzubüßen: Fortwährende Kritik.
* * * * *
Der alte oft erprobte Fluch: Mein Typus Weib bleibt mir ewig
verborgen.
Was will ich denn! Einen Kameraden, eine freie Seele, einen
anmutigen Körper.
In Rußland fände ich diese Gefährtin, in Italien -- nein. In Deutschland,
dem für mich doch allein zulässigen Lande -- wo, wo, wo?
Ihr wollt alle nur die Liebe zur Möglichkeit haben. Ich habe nur die
Liebe zur Unmöglichkeit.
* * * * *
Kritik, Kritik, nimmer genug Kritik, ein Spiegel sei mir noch das letzte
Tor.

* * * * *
Wie die Nacht über einen Tod zieht, so zieht Vergessenheitsnacht
allnächtlich über mein Gehirn. Ja, oft hat ein Tag so viele Tage und
Nächte, wie bei andern wohl oft Wochen und Monate. Wenn mich
jemand hypnotisierte, ich sei eine Mücke und hätte nur einen Tag zu
leben, so glaube ich wohl, daß dieser Tag für mich ein ganzes Leben
werden könnte.
* * * * *
Ich habe soeben eine lange leidenschaftliche Epistel an meinen Ofen
verfaßt und sie ihm dann gegeben. Er verschlang sie gierig und wärmte
mir mit seinem Feuer zwei Minuten lang Gesicht und Hände. Gewiß,
das war alles; aber es gibt Menschen, die nicht einmal wie ein Ofen zu
antworten vermögen.
* * * * *
Ich ermangele ganz des Vermögens, mir nach einer Beschreibung --
und wenn sie noch so genau ist -- ein Zimmer oder eine Landschaft
vorzustellen. Bühnenanweisungen gehen an mir meistens spurlos
vorüber und Schilderungen etwa wie des Hauses der Buddenbrooks
gehen nur mit einigen groben Zügen in mein Gehirn ein.
* * * * *
Ich habe sehr sichere Instinkte, aber nicht die Gabe, eingehend zu
begründen, zu erklären. Die Mehrzahl der Heutigen hat umgekehrt die
Gabe des Begründens und Erklärens in hohem Maße, aber dafür keine
innere Direktion. Es ist unendlich quälend, die Berechtigung seines
Urteils immer wieder aufs neue beweisen zu sollen.
* * * * *
Ich bin wie eine Brieftaube, die man vom Urquell der Dinge in ein
fernes, fremdes Land getragen und dort freigelassen hat. Sie trachtet ihr
ganzes Leben nach der einstigen Heimat, ruhlos durchmißt sie das Land
nach allen Seiten. Und oft fällt sie zu Boden in ihrer großen Müdigkeit,
und man kommt, hebt sie auf, pflegt sie und will sie ans Haus
gewöhnen. Aber so bald sie die Flügel nur wieder fühlt, fliegt sie von
neuem fort, auf die einzige Fahrt, die ihrer Sehnsucht genügt, die
unvermeidliche Suche nach dem Ort ihres Ursprungs.
* * * * *
Wenn ich etwas an Christus verstehe, so ist es das: 'Und er entwich vor
ihnen in die Wüste.'

* * * * *
Wie wenig meiner sicher bin ich doch noch. Mit welcher
Leichtfertigkeit habe ich heute Abend über Menschen geredet: so daß
ich nun nachts über mich erschrecke. (Ich werde mir doch das
Armband 'Denke daran' anlegen müssen.)
* * * * *
Eines kann ich wohl als Merkwort über all mein Leben und seine
Erfahrungen schreiben: Fast alles, was ich geworden bin, verdanke ich
mir selber, einigen Privatpersonen und dem Zufall. Von irgendeiner
bewußten organischen Kultur um mich herum, die das
Einzelindividuum zu benutzen und systematisch auszubilden vermocht
hätte, spürte ich nie etwas. Weder Eltern noch Lehrer noch irgendwer
hat mich je kraftvoll in die Hand genommen und in großem Sinne
erzogen. Und wenn ich, ein Mensch von ursprünglich glänzender
Begabung, alles in allem ein Dilettant geblieben bin, so hat die Hälfte
der Schuld daran gewiß die Unsumme von Dilettantismus, von
Halbheit und Kulturlosigkeit, die ich überall gefunden habe, wohin
mich meine bewegte
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