Stufen | Page 2

Christian Morgenstern
schreibt
mir dort auf mein steinern Haus nur den Namen und: 'Lest Lagarde!' Ja,
nur die zwei Dinge klein und groß: Diese Bitte und dann meinen
Namen bloß. Nur den Namen und: 'Lest Lagarde!'
Das Inselchen Mutterland dorten, nein, das will ich nicht verschmähn.
Holt mich doch dort bald die Nordsee heim mit steilen, stürzenden
Seen -- das Muttermeer, die Mutterflut ... o wie sich gut dann da
drunten ruht, tief fern von deutschem Geschehn!
Inzwischen war dem Fünfunddreißigjährigen Entscheidendes geworden.
Natur und Mensch hatten sich ihm endgültig vergeistigt. Und als er
eines Abends wieder einmal das Evangelium nach Johannes aufschlug,
glaubte er es zum ersten Male wirklich zu verstehen.
Die nächsten Jahre -- des Austragens, Ausreifens, zu Ende Denkens --
überstand er so, wie er sie überstand, eigentlich nur, weil ihm
Gesundheit und Mittel fehlten, sich irgendwohin zurückzuziehen, wo er
in völliger Unbekanntheit seine Tage hätte vollenden dürfen. Er war
doppelt geworden und in der wunderlichen Verfassung, sich, sozusagen,
groß oder klein schreiben zu können. (In 'Einkehr', 'Ich und Du' und
einer Sammlung Aufzeichnungen findet sich Einiges aus diesem
Abschnitt.)
Er konnte in einem Kaffeehause sitzen und fühlen: 'So von seinem
Marmortischchen aus, seine Tasse vor sich, zu betrachten, die da
kommen und gehen, sich setzen und sich unterhalten, und durch das
mächtige Fenster die draußen hin und her treiben zu sehen, wie
Fischgewimmel hinter der Glaswand eines großen Behälters, -- und
dann und wann der Vorstellung sich hinzugeben: Das bist Du! -- Und
sie alle zu sehen, wie sie nicht wissen, wer sie sind, wer da, als sie, mit
SICH selber redet und wer sie aus meinen Augen als SICH erkennt und
aus ihren nur als sie!' ...
Und doch war solches Erkennen nur erst ein Oberflächen-Erkennen und
darum letzten Endes noch zur Unfruchtbarkeit verurteilt.
So kam das Jahr 1908 --
'Da traf ich Dich, in ärgster Not: den Andern! Mit Dir vereint, gewann
ich frischen Mut. Von neuem hob ich an, mit Dir, zu wandern, und
siehe da: Das Schicksal war uns gut. Wir fanden einen Pfad, der klar

und einsam empor sich zog, bis, wo ein Tempel stand. Der Steig war
steil, doch wagten wir's gemeinsam. Und heut noch helfen wir uns,
Hand in Hand.'
Der Andre war Sie, die mein Leben fortan teilte; der Pfad war der Weg
theosophisch-anthroposophischer Erkenntnisse, wie sie uns heute, in
einziger Weise, durch Rudolf Steiner vermittelt werden.
In dieser Persönlichkeit lebt ein großer spiritueller Forscher 'ein ganz
dem Dienste der Wahrheit gewidmetes Leben' vor uns und für uns dar.
Vor ihm darf auch der Unabhängigste sich von neuem besinnen und
revidieren, vor ihm hat dies jedenfalls der getan, der immer am liebsten
dem Worte nachleben wollte: -- Vitam impendere vero.

IN ME IPSUM
_Was ist denn von außen her über ein Leben zu sagen! Gar nichts._

1891
Nicht im lärmenden Kampf der Tage, auch nicht im Sturm einer großen
Zeit, aber nach Jahrtausenden stiller Arbeit, nach Äonen ewig
fortwirkenden Webens -- dann werden die Menschen gut werden.
O, wer diesen Glauben, der mir Gewißheit ist, in allen Augenblicken
seines Strebens im Herzen lebendig fühlte, er würde glücklich sein.
* * * * *
Mein einziges Gebet ist das um Vertiefung. Durch sie allein kann ich
wieder zu Gott gelangen. Vertiefung! Vertiefung!

1892
Ich bin ein Studienkopf, den der Schöpfer einst flüchtig skizzierte, als
ihm ein Künstlerporträt im Sinne lag.

1894
Ich möchte nicht leben, wenn Ich nicht lebte.
* * * * *
Vor einer Menschenmenge: Ich sehe plötzlich die Gedanken dieses
Volks wie eine dicke schwarze Wolke über ihm. Eine Wolke voll
Tränen und Blitzen.

* * * * *
Über all meinen Werken soll es wie ein großes Verstehen liegen -- und
davon werden viele glücklich werden.

1895
Mir ist mein ganzes Leben zu Mut, als ginge mein Weg oft an der
Hecke des Paradieses vorbei. Dann streift mich warmer Hauch, dann
mein' ich, Rosen zu sehn und zu atmen, ein süßer Ton rührt mich zu
Tränen, auf der Stirn liegt es mir wie eine liebe, friedegebende Hand --
sekundenlang. So streife ich oft vorbei an der Hecke des Paradieses ...
* * * * *
O tiefe Liebe, die mich zu allem beseelt.
* * * * *
Möchte gern noch oft erwachen, stets als großer Künstler.

1896
In Arco:
Ich dünkte mich einer jener alten blonden Germanen, die hier einst mit
Herrscherschritt durch die Straßen wanderten.
* * * * *
Ich sehe auf mich selbst zurück. Unzählige Gestalten huschen
schemenhaft an mir vorüber.
* * * * *
Ausgraben will ich meiner Seele Schacht.
* * * * *
Daß ich nie in meinem Leben eine Schwester gehabt habe! Kein
fremdes Weib kann dem Bruder ein solches Verhältnis ersetzen.
* * * * *
Man lasse sich durch meine Ironie nicht
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