Siegfried, der Held | Page 6

Rudolph Herzog
sich
einen Weg, und so oft sie wieder zusammenrückten und ihn zu
ersticken drohten, sein Mut und seine Kraft erlahmten nicht, und das
brennende Gestrüpp flog unter seinem Schwert wie Feuergarben nach
links und nach rechts. »Spring an, Grane!« rief der Held, »spring an!
Beiß zu, Balmung! Hei, mein gutes Schwert, beiß zu!« Und in
gewaltigen Sätzen sprengte das Roß aufwärts, keuchend und stöhnend,
Funken und Flammen unter seinen Hufen. Und der Stahl Balmung

zischte und blitzte, zerbiß Eichenstämme wie dünne Ruten und hielt die
Bahn frei, bevor sich die lodernde Wildnis wieder schließen konnte.
Der Gipfel des Berges war erreicht. Ein ragendes Tor stieß Siegfried
mit dem Schwertknauf ein. Da donnerte es rings um den Himmel
herum minutenlang, und als das letzte Rollen des Donners verhallt war,
waren die Flammen des Berges erloschen, und der Wald grünte und
blühte in der goldenen Morgensonne.
Siegfried zog sich die Tarnkappe vom Haupt. Sein Gesicht glühte, und
die Adern lagen ihm wie Stricke auf der Stirn. »Das war, bei Gott, nicht
leicht,« stieß er, nach Atem ringend, hervor, schüttelte die Locken und
sprang vom Pferde. Neben seinem Rosse Grane kniete er hin, das Auge
auf die goldene Morgensonne gerichtet, und dankte dem Himmel für
die sichtbare Behütung.
Dann nahm er Grane beim Zügel und schritt durch das Tor.
Da lag auf mauerumgürtetem Platze eine große, wunderbar schöne Frau,
gepanzert und behelmt, angeschmiedet auf einem eisernen Lager. Wie
eine Schlafende lag sie mit geschlossenen Augen.
Leise trat Siegfried heran und beugte sich über sie. Nie glaubte er
Herrlicheres geschaut zu haben. Denn wie eine Kriegsgöttin war diese
Frau anzusehen, von mächtigem Körperbau und doch von Antlitz schön
und stolz wie eine hehre Jungfrau. Nachtschwarz fielen ihr die Locken
um die Wangen, und der Mund blühte rot und sehnsüchtig.
[Illustration: Siegfried tritt an das Lager Brunhilds]
Behutsam nahm Siegfried sein Schwert, und der Balmung durchschnitt
die Eisenfesseln, als wären es weiche Stricke gewesen. Da dehnte die
heldische Jungfrau traumbefangen ihre Glieder. Und Siegfried beugte
sich tiefer über sie und küßte sie sacht auf den Mund.
Groß und weit öffnete die Jungfrau ihre Augen. Dunkel waren sie wie
ihr nachtschwarzes Gelock, und sie erwachten aus dem Traum und
gewannen Leben und Feuer.

»Wer bist du, Held?« sprachen ihre Lippen. »Und wo kommst du her?«
Und der Held antwortete und war noch immer über sie gebeugt: »Ich
bin Siegfried, Siegmunds Sohn und gebürtig aus Xanten am
Niederrhein.«
»Was trieb dich, o Siegfried, dies Wagestück zu bestehen?«
»Der Wunsch, o Brunhild, dich zu befreien und dich zu gewinnen.«
Sie stützte sich auf ihre starken Arme und richtete sich auf. Ihr Blick
schweifte durch das offene Tor den Berg hinab.
»Das Feuer ist erloschen,« sagte sie leise und atmete tief. »Und der
furchtbare Bannspruch ist mit ihm erloschen.«
Sie sprang auf die Füße, daß ihr Panzer klirrte, reckte die Arme und
streckte den Leib. »Frei! Frei!«
Und Siegfried stand neben ihr, staunte ihres Leibes Kraft und
Schönheit an und wußte nichts zu sagen.
Da wendete sie den Kopf nach ihm, gewahrte sein bewunderndes Auge,
gewahrte seine Reckengestalt und errötete tief.
»Blicke mich nicht so an, o Held.«
»Du bist so schön, o Brunhild.«
»Nur wer mein Gemahl wäre, dürfte mich so anschauen. Und es gibt
keinen Mann auf Erden, der so stark ist, daß er mich bezwänge.«
»Wehr' dich,« lachte Siegfried, trat auf sie zu und schloß sie in seine
Arme, daß sie sich nicht regen konnte. Aber der Zorn flammte aus
ihren Augen und färbte ihre Wangen.
»Gib mich frei,« stieß sie hervor, »oder es könnte dich reuen.«
»Hab' nimmer gelernt, was Furcht ist,« lachte der Held und küßte sie

auf den zornigen Mund.
»Du Unband,« stöhnte sie, aber nun lachte auch sie.
»Siehst du wohl,« sagte Siegfried, »es geht schon an. Nun küsse auch
du mich einmal.«
Sie glaubte seine Arme gelockert und sprang plötzlich gegen ihn an,
daß es ihn fast umgeworfen hätte. Aber nun umschlang er sie, daß sich
ihr Panzer bog und ihr der Atem in der Kehle stockte. »Ist das dein Kuß,
du Wilde? So will ich dich wohl auf deine Weise wieder küssen, wenn
dir das eher gefällt.«
Da hob sie, von seiner Kraft und seinem Lachen bezwungen, den Kopf
und küßte ihn.
Und allsogleich ließ er von ihr ab, bog das Knie und huldigte ihr
ritterlich.
Das Blitzen ihrer Augen schwand, und ihr Blick wurde weich und
frauenhaft. Ihre Hand spielte in seinen Locken.
»Mein Held,« sagte sie und atmete tief. »Mein Held und Befreier.«
»Danke mir besser, o, ich bitte dich, Brunhild.«
»Was könntest du Besseres begehren als meine Freundschaft?«
Und Siegfried sprang vom Boden auf und rief: »Dich selber! Werde
mein Weib!«
Lange sann Brunhild in die Ferne hinaus. Dann sprach sie:
»Fern im Nordmeer liegt ein Inselreich. Wie eine unbezwingbare
Festung steigt es aus der wildrollenden See. Eine Kette von
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