Roemische Geschichte, Band 3 | Page 5

Theodor Mommsen
Seefahrt in unbekannten Gewaessern und mit bewaffneten Schiffen fordert tapfere Herzen, und dass diese unter den Phoenikern zu finden waren, haben sie oft bewiesen. Es ist noch weniger Mangel an Zaehigkeit und Eigenartigkeit des Nationalgefuehls; vielmehr haben die Aramaeer mit einer Hartnaeckigkeit, welche kein indogermanisches Volk je erreicht hat und welche uns Okzidentalen bald mehr, bald weniger als menschlich zu sein duenkt, ihre Nationalitaet gegen alle Lockungen der griechischen Zivilisation wie gegen alle Zwangsmittel der orientalischen und okzidentalischen Despoten mit den Waffen des Geistes wie mit ihrem Blute verteidigt. Es ist der Mangel an staatlichem Sinn, der bei dem lebendigsten Stammgefuehl, bei der treuesten Anhaenglichkeit an die Vaterstadt doch das eigenste Wesen der Phoeniker bezeichnet. Die Freiheit lockte sie nicht und es geluestete sie nicht nach der Herrschaft; "ruhig lebten sie", sagt das Buch der Richter, "nach der Weise der Sidonier, sicher und wohlgemut und im Besitz von Reichtum". Unter allen phoenikischen Ansiedlungen gediehen keine schneller und sicherer als die von den Tyriern und Sidoniern an der Suedkueste Spaniens und an der nordafrikanischen gegruendeten, in welche Gegenden weder der Arm des Grosskoenigs noch die gefaehrliche Rivalitaet der griechischen Seefahrer reichte, die Eingeborenen aber den Fremdlingen gegenueberstanden wie in Amerika die Indianer den Europaeern. Unter den zahlreichen und bluehenden phoenikischen Staedten an diesen Gestaden ragte vor allem hervor die "Neustadt", Karthada oder, wie die Okzidentalen sie nennen, Karchedon oder Karthago. Nicht die frueheste Niederlassung der Phoeniker in dieser Gegend und urspruenglich vielleicht schutzbefohlene Stadt des nahen Utica, der aeltesten Phoenikerstadt in Libyen, ueberfluegelte sie bald ihre Nachbarn, ja die Heimat selbst durch die unvergleichlich guenstige Lage und die rege Taetigkeit ihrer Bewohner. Gelegen unfern der (ehemaligen) Muendung des Bagradas (Medscherda), der die reichste Getreidelandschaft Nordafrikas durchstroemt, auf einer fruchtbaren noch heute mit Landhaeusern besetzten und mit Oliven- und Orangenwaeldern bedeckten Anschwellung des Bodens, der gegen die Ebene sanft sich abdacht und an der Seeseite als meerumflossenes Vorgebirg endigt, inmitten des grossen Hafens von Nordafrika, des Golfes von Tunis, da wo dies schoene Bassin den besten Ankergrund fuer groessere Schiffe und hart am Strande trinkbares Quellwasser darbietet, ist dieser Platz fuer Ackerbau und Handel und die Vermittlung beider so einzig guenstig, dass nicht bloss die tyrische Ansiedlung daselbst die erste phoenikische Kaufstadt ward, sondern auch in der roemischen Zeit Karthago, kaum wiederhergestellt, die dritte Stadt des Kaiserreichs wurde und noch heute unter nicht guenstigen Verhaeltnissen und an einer weit weniger gut gewaehlten Stelle dort eine Stadt von hunderttausend Einwohnern besteht und gedeiht. Die agrikole, merkantile, industrielle Bluete einer Stadt in solcher Lage und mit solchen Bewohnern erklaert sich selbst; wohl aber fordert die Frage eine Antwort, auf welchem Weg diese Ansiedlung zu einer politischen Machtentwicklung gelangte, wie sie keine andere phoenikische Stadt besessen hat. Dass der phoenikische Stamm seine politische Passivitaet auch in Karthago nicht verleugnet hat, dafuer fehlt es keineswegs an Beweisen. Karthago bezahlte bis in die Zeiten seiner Bluete hinab fuer den Boden, den die Stadt einnahm, Grundzins an die einheimischen Berber, den Stamm der Maxyer oder Maxitaner; und obwohl das Meer und die Wueste die Stadt hinreichend schuetzten vor jedem Angriff der oestlichen Maechte, scheint Karthago doch die Herrschaft des Grosskoenigs wenn auch nur dem Namen nach anerkannt und ihm gelegentlich gezinst zu haben, um sich die Handelsverbindungen mit Tyros und dem Osten zu sichern. Aber bei allem guten Willen, sich zu fuegen und zu schmiegen, traten doch Verhaeltnisse ein, die diese Phoeniker in eine energischere Politik draengten. Vor dem Strom der hellenischen Wanderung, der sich unaufhaltsam gegen Westen ergoss, der die Phoeniker schon aus dem eigentlichen Griechenland und von Italien verdraengt hatte und eben sich anschickte, in Sizilien, in Spanien, ja in Libyen selbst das gleiche zu tun, mussten die Phoeniker doch irgendwo standhalten, wenn sie nicht gaenzlich sich wollten erdruecken lassen. Hier, wo sie mit griechischen Kaufleuten und nicht mit dem Grosskoenig zu tun hatten, genuegte es nicht, sich zu unterwerfen, um gegen Schoss und Zins Handel und Industrie in alter Weise fortzufuehren. Schon waren Massalia und Kyrene gegruendet; schon das ganze oestliche Sizilien in den Haenden der Griechen; es war fuer die Phoeniker die hoechste Zeit zu ernstlicher Gegenwehr. Die Karthager nahmen sie auf; in langen und hartnaeckigen Kriegen setzten sie dem Vordringen der Kyrenaeer eine Grenze und der Hellenismus vermochte nicht sich westwaerts der Wueste von Tripolis festzusetzen. Mit karthagischer Hilfe erwehrten ferner die phoenikischen Ansiedler auf der westlichen Spitze Siziliens sich der Griechen und begaben sich gern und freiwillig in die Klientel der maechtigen stammverwandten Stadt. Diese wichtigen Erfolge, die ins zweite Jahrhundert Roms fallen und die den suedwestlichen Teil des Mittelmeers den Phoenikern retteten, gaben der Stadt, die sie erfochten hatte, von selbst die Hegemonie der Nation und zugleich eine veraenderte politische Stellung. Karthago war nicht mehr eine blosse Kaufstadt; sie zielte nach der Herrschaft ueber Libyen und ueber einen Teil des Mittelmeers,
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