Roemische Geschichte, Band 1 | Page 7

Theodor Mommsen
sie die eigentuemlich gearteten
Gerippe, die Mahlzeit- und Grabstaetten der sogenannten Steinepoche
des deutschen Altertums zu offenbaren scheinen. Es ist bisher nichts
zum Vorschein gekommen, was zu der Annahme berechtigt, dass in
Italien die Existenz des Menschengeschlechts aelter sei als die
Bebauung des Ackers und das Schmelzen der Metalle; und wenn
wirklich innerhalb der Grenzen Italiens das Menschengeschlecht
einmal auf der primitiven Kulturstufe gestanden hat, die wir den
Zustand der Wildheit zu nennen pflegen, so ist davon doch jede Spur
schlechterdings ausgeloescht. Die Elemente der aeltesten Geschichte
sind die Voelkerindividuen, die Staemme. Unter denen, die uns
spaeterhin in Italien begegnen, ist von einzelnen, wie von den Hellenen,
die Einwanderung, von anderen, wie von den Brettiern und den
Bewohnern der sabinischen Landschaft, die Denationalisierung
geschichtlich bezeugt. Nach Ausscheidung beider Gattungen bleiben
eine Anzahl Staemme uebrig, deren Wanderungen nicht mehr mit dem
Zeugnis der Geschichte, sondern hoechstens auf aprioristischem Wege
sich nachweisen lassen und deren Nationalitaet nicht nachweislich eine
durchgreifende Umgestaltung von aussen her erfahren hat; diese sind es,
deren nationale Individualitaet die Forschung zunaechst festzustellen
hat. Waeren wir dabei einzig angewiesen auf den wirren Wust der
Voelkernamen und der zerruetteten, angeblich geschichtlichen
Ueberlieferung, welche aus wenigen brauchbaren Notizen zivilisierter
Reisender und einer Masse meistens geringhaltiger Sagen, gewoehnlich
ohne Sinn fuer Sage wie fuer Geschichte zusammengesetzt und
konventionell fixiert ist, so muesste man die Aufgabe als eine
hoffnungslose abweisen. Allein noch fliesst auch fuer uns eine Quelle
der Ueberlieferung, welche zwar auch nur Bruchstuecke, aber doch
authentische gewaehrt; es sind dies die einheimischen Sprachen der in
Italien seit unvordenklicher Zeit ansaessigen Staemme. Ihnen, die mit
dem Volke selbst geworden sind, war der Stempel des Werdens zu tief
eingepraegt, um durch die nachfolgende Kultur gaenzlich verwischt zu

werden. Ist von den italischen Sprachen auch nur eine vollstaendig
bekannt, so sind doch von mehreren anderen hinreichende Ueberreste
erhalten, um der Geschichtsforschung fuer die Stammverschiedenheit
oder Stammverwandtschaft und deren Grade zwischen den einzelnen
Sprachen und Voelkern einen Anhalt zu gewaehren. So lehrt uns die
Sprachforschung drei italische Urstaemme unterscheiden, den
iapygischen, den etruskischen und den italischen, wie wir ihn nennen
wollen, von welchen der letztere in zwei Hauptzweige sich spaltet: das
latinische Idiom und dasjenige, dem die Dialekte der Umbrer, Marser,
Volsker und Samniten angehoeren. Von dem iapygischen Stamm haben
wir nur geringe Kunde. Im aeussersten Suedosten Italiens, auf der
messapischen oder kalabrischen Halbinsel, sind Inschriften in einer
eigentuemlichen verschollenen Sprache ^1 in ziemlicher Anzahl
gefunden worden, unzweifelhaft Truemmer des Idioms der Iapyger,
welche auch die Oberlieferung mit grosser Bestimmtheit von den
latinischen und samnitischen Staemmen unterscheidet; glaubwuerdige
Angaben und zahlreiche Spuren fuehren dahin, dass die gleiche
Sprache und der gleiche Stamm urspruenglich auch in Apulien
heimisch war. Was wir von diesem Volke jetzt wissen, genuegt wohl,
um dasselbe von den uebrigen Italikern bestimmt zu unterscheiden,
nicht aber, um positiv den Platz zu bestimmen, welcher dieser Sprache
und diesem Volk in der Geschichte des Menschengeschlechts zukommt.
Die Inschriften sind nicht entraetselt, und es ist kaum zu hoffen, dass
dies dereinst gelingen wird. Dass der Dialekt den indogermanischen
beizuzaehlen ist, scheinen die Genetivformen aihi und ihi entsprechend
dem sanskritischen asya, dem griechischen oio anzudeuten. Andere
Kennzeichen, zum Beispiel der Gebrauch der aspirierten Konsonanten
und das Vermeiden der Buchstaben m und t im Auslaut, zeigen diesen
iapygischen in wesentlicher Verschiedenheit von den italischen und in
einer gewissen Uebereinstimmung mit den griechischen Dialekten. Die
Annahme einer vorzugsweise engen Verwandtschaft der iapygischen
Nation mit den Hellenen findet weitere Unterstuetzung in den auf den
Inschriften mehrfach hervortretenden griechischen Goetternamen und
in der auffallenden, von der Sproedigkeit der uebrigen italischen
Nationen scharf abstechenden Leichtigkeit, mit der die Iapyger sich
hellenisierten: Apulien, das noch in Timaeos' Zeit (400 Roms, [350])
als ein barbarisches Land geschildert wird, ist im sechsten Jahrhundert

der Stadt, ohne dass irgendeine unmittelbare Kolonisierung von
Griechenland aus dort stattgefunden haette, eine durchaus griechische
Landschaft geworden, und selbst bei dem rohen Stamm der Messapier
zeigen sich vielfache Ansaetze zu einer analogen Entwicklung. Bei
dieser allgemeinen Stamm- oder Wahlverwandtschaft der Iapyger mit
den Hellenen, die aber doch keineswegs so weit reicht, dass man die
Iapygersprache als einen rohen Dialekt des Hellenischen auffassen
koennte, wird die Forschung vorlaeufig wenigstens stehen bleiben
muessen, bis ein schaerferes und besser gesichertes Ergebnis zu
erreichen steht ^2. Die Luecke ist indes nicht sehr empfindlich; denn
nur weichend und verschwindend zeigt sich uns dieser beim Beginn
unserer Geschichte schon im Untergehen begriffene Volksstamm. Der
wenig widerstandsfaehige, leicht in andere Nationalitaeten sich
aufloesende Charakter der iapygischen Nation passt wohl zu der
Annahme, welche durch ihre geographische Lage wahrscheinlich
gemacht wird, dass dies die aeltesten Einwanderer oder die historischen
Autochthonen Italiens sind. Denn unzweifelhaft sind die aeltesten
Wanderungen der Voelker alle zu Lande erfolgt; zumal die nach Italien
gerichteten, dessen Kueste zur See nur von kundigen Schiffern erreicht
werden kann und deshalb noch in Homers Zeit den Hellenen voellig
unbekannt war.
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