Roemische Geschichte, Band 1 | Page 6

Theodor Mommsen
entschieden ein Teil Italiens wie der
Peloponnes von Griechenland, der Tummelplatz derselben Staemme
und der gemeinsame Sitz der gleichen hoeheren Gesittung. Die
italische Halbinsel teilt mit der griechischen die gemaessigte
Temperatur und die gesunde Luft auf den maessig hohen Bergen und
im ganzen auch in den Taelern und Ebenen. In der Kuestenentwicklung
steht sie ihr nach; namentlich fehlt das Inselreiche Meer, das die

Hellenen zur seefahrenden Nation gemacht hat. Dagegen ist Italien dem
Nachbarn ueberlegen durch die reichen Flussebenen und die
fruchtbaren und kraeuterreichen Bergabhaenge, wie der Ackerbau und
die Viehzucht ihrer bedarf. Es ist wie Griechenland ein schoenes Land,
das die Taetigkeit des Menschen anstrengt und belohnt und dem
unruhigen Streben die Bahnen in die Ferne, dem ruhigen die Wege zu
friedlichem Gewinn daheim in gleicher Weise eroeffnet. Aber wenn die
griechische Halbinsel nach Osten gewendet ist, so ist es die italische
nach Westen. Wie das epirotische und akarnanische Gestade fuer
Hellas, so sind die apulischen und messapischen Kuesten fuer Italien
von untergeordneter Bedeutung; und wenn dort diejenigen
Landschaften, auf denen die geschichtliche Entwicklung ruht, Attika
und Makedonien, nach Osten schauen, so sehen Etrurien, Latium und
Kampanien nach Westen. So stehen die beiden so eng benachbarten
und fast verschwisterten Halbinseln gleichsam voneinander
abgewendet; obwohl das unbewaffnete Auge von Otranto aus die
akrokeraunischen Berge erkennt, haben Italiker und Hellenen sich doch
frueher und enger auf jeder andern Strasse beruehrt als auf der
naechsten ueber das Adriatische Meer. Es war auch hier wie so oft in
den Bodenverhaeltnissen der geschichtliche Beruf der Voelker
vorgezeichnet: die beiden grossen Staemme, auf denen die Zivilisation
der Alten Welt erwuchs, warfen ihre Schatten wie ihren Samen der eine
nach Osten, der andere nach Westen. Es ist die Geschichte Italiens, die
hier erzaehlt werden soll, nicht die Geschichte der Stadt Rom. Wenn
auch nach formalem Staatsrecht die Stadtgemeinde von Rom es war,
die die Herrschaft erst ueber Italien, dann ueber die Welt gewann, so
laesst sich doch dies im hoeheren geschichtlichen Sinne keineswegs
behaupten und erscheint das, was man die Bezwingung Italiens durch
die Roemer zu nennen gewohnt ist, vielmehr als die Einigung zu einem
Staate des gesamten Stammes der Italiker, von dem die Roemer wohl
der gewaltigste, aber doch nur ein Zweig sind. Die italische Geschichte
zerfaellt in zwei Hauptabschnitte: in die innere Geschichte Italiens bis
zu seiner Vereinigung unter der Fuehrung des latinischen Stammes und
in die Geschichte der italischen Weltherrschaft. Wir werden also
darzustellen haben des italischen Volksstammes Ansiedelung auf der
Halbinsel; die Gefaehrdung seiner nationalen und politischen Existenz
und seine teilweise Unterjochung durch Voelker anderer Herkunft und

aelterer Zivilisation, durch Griechen und Etrusker; die Auflehnung der
Italiker gegen die Fremdlinge und deren Vernichtung oder
Unterwerfung; endlich die Kaempfe der beiden italischen
Hauptstaemme, der Latiner und der Samniten, um die Hegemonie auf
der Halbinsel und den Sieg der Latiner am Ende des vierten
Jahrhunderts vor Christi Geburt oder des fuenften der Stadt Rom. Es
wird dies den Inhalt der beiden ersten Buecher bilden. Den zweiten
Abschnitt eroeffnen die Punischen Kriege; er umfasst die reissend
schnelle Ausdehnung des Roemerreiches bis an und ueber Italiens
natuerliche Grenzen, den langen Status quo der roemischen Kaiserzeit
und das Zusammenstuerzen des gewaltigen Reiches. Dies wird im
dritten und den folgenden Buechern erzaehlt werden. 2. Kapitel Die
aeltesten Einwanderungen in Italien Keine Kunde, ja nicht einmal eine
Sage erzaehlt von der ersten Einwanderung des Menschengeschlechts
in Italien; vielmehr war im Altertum der Glaube allgemein, dass dort
wie ueberall die erste Bevoelkerung dem Boden selbst entsprossen sei.
Indes die Entscheidung ueber den Ursprung der verschiedenen Rassen
und deren genetische Beziehungen zu den verschiedenen Klimaten
bleibt billig dem Naturforscher ueberlassen; geschichtlich ist es weder
moeglich noch wichtig festzustellen, ob die aelteste bezeugte
Bevoelkerung eines Landes daselbst autochthon oder selbst schon
eingewandert ist. Wohl aber liegt es dem Geschichtsforscher ob, die
sukzessive Voelkerschichtung in dem einzelnen Lande darzulegen, um
die Steigerung von der unvollkommenen zu der vollkommneren Kultur
und die Unterdrueckung der minder kulturfaehigen oder auch nur
minder entwickelten Staemme durch hoeher stehende Nationen soweit
moeglich rueckwaerts zu verfolgen. Italien indes ist auffallend arm an
Denkmaelern der primitiven Epoche und steht in dieser Beziehung in
einem bemerkenswerten Gegensatz zu anderen Kulturgebieten. Den
Ergebnissen der deutschen Altertumsforschung zufolge muss in
England, Frankreich, Norddeutschland und Skandinavien, bevor
indogermanische Staemme hier sich ansaessig machten, ein Volk
vielleicht tschudischer Rasse gewohnt oder vielmehr gestreift haben,
das von Jagd und Fischfang lebte, seine Geraete aus Stein, Ton oder
Knochen verfertigte und mit Tierzaehnen und Bernstein sich
schmueckte, des Ackerbaues aber und des Gebrauchs der Metalle
unkundig war. In aehnlicher Weise ging in Indien der

indogermanischen eine minder kulturfaehige dunkelfarbige
Bevoelkerung vorauf. In Italien aber begegnen weder Truemmer einer
verdraengten Nation, wie im keltisch-germanischen Gebiet die Finnen
und Lappen und die schwarzen Staemme in den indischen Gebirgen
sind, noch ist daselbst bis jetzt die Verlassenschaft eines verschollenen
Urvolkes nachgewiesen worden, wie
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