Roemische Geschichte, Band 1 | Page 5

Theodor Mommsen
jede dieser
Geschichten an ihren Anfaengen an andere Gesichts- und
Geschichtskreise an; aber jede auch schlaegt bald ihren eigenen
abgesonderten Gang ein. Die stammfremden oder auch
stammverwandten Nationen aber, die diesen grossen Kreis umwohnen,
die Berber und Neger Afrikas, die Araber, Perser und Inder Asiens, die
Kelten und Deutschen Europas, haben mit jenen Anwohnern des
Mittelmeers wohl auch vielfach sich beruehrt, aber eine eigentlich
bestimmende Entwicklung doch weder ihnen gegeben noch von ihnen
empfangen; und soweit ueberhaupt Kulturkreise sich abschliessen
lassen, kann derjenige als eine Einheit gelten, dessen Hoehepunkt die
Namen Theben, Karthago, Athen und Rom bezeichnen. Es haben jene
vier Nationen, nachdem jede von ihnen auf eigener Bahn zu einer
eigentuemlichen und grossartigen Zivilisation gelangt war, in
mannigfaltigster Wechselbeziehung zueinander alle Elemente der
Menschennatur scharf und reich durchgearbeitet und entwickelt, bis
auch dieser Kreis erfuellt war, bis neue Voelkerschaften, die bis dahin
das Gebiet der Mittelmeerstaaten nur wie die Wellen den Strand
umspuelt hatten, sich ueber beide Ufer ergossen und, indem sie die

Suedkueste geschichtlich trennten von der noerdlichen, den
Schwerpunkt der Zivilisation verlegten vom Mittelmeer an den
Atlantischen Ozean. So scheidet sich die alte Geschichte von der neuen
nicht bloss zufaellig und chronologisch; was wir die neue Geschichte
nennen, ist in der Tat die Gestaltung eines neuen Kulturkreises, der in
mehreren seiner Entwicklungsepochen wohl anschliesst an die
untergehende oder untergegangene Zivilisation der Mittelmeerstaaten
wie diese an die aelteste indogermanische, aber auch wie diese
bestimmt ist, eine eigene Bahn zu durchmessen und Voelkerglueck und
Voelkerleid im vollen Masse zu erproben: die Epochen der
Entwicklung, der Vollkraft und des Alters, die beglueckende Muehe
des Schaffens in Religion, Staat und Kunst, den bequemen Genuss
erworbenen materiellen und geistigen Besitzes, vielleicht auch dereinst
das Versiegen der schaffenden Kraft in der satten Befriedigung des
erreichten Zieles. Aber auch dieses Ziel wird nur ein vorlaeufiges sein;
das grossartigste Zivilisationssystem hat seine Peripherie und kann sie
erfuellen, nimmer aber das Geschlecht der Menschen, dem, so wie es
am Ziele zu stehen scheint, die alte Aufgabe auf weiterem Felde und in
hoeherem Sinne neu gestellt wird. Unsere Aufgabe ist die Darstellung
des letzten Akts jenes grossen weltgeschichtlichen Schauspiels, die alte
Geschichte der mittleren unter den drei Halbinseln, die vom
noerdlichen Kontinent aus sich in das Mittelmeer erstrecken. Sie wird
gebildet durch die von den westlichen Alpen aus nach Sueden sich
verzweigenden Gebirge. Der Apennin streicht zunaechst in
suedoestlicher Richtung zwischen dem breiteren westlichen und dem
schmalen oestlichen Busen des Mittelmeers, an welchen letzteren
hinantretend er seine hoechste, kaum indes zu der Linie des ewigen
Schnees hinansteigende Erhebung in den Abruzzen erreicht. Von den
Abruzzen aus setzt das Gebirge sich in suedlicher Richtung fort,
anfangs ungeteilt und von betraechtlicher Hoehe; nach einer
Einsattlung, die eine Huegellandschaft bildet, spaltet es sich in einen
flacheren suedoestlichen und einen steileren suedlichen Hoehenzug und
schliesst dort wie hier mit der Bildung zweier schmaler Halbinseln ab.
Das noerdlich zwischen Alpen und Apennin bis zu den Abruzzen hinab
sich ausbreitende Flachland gehoert geographisch und bis in sehr spaete
Zeit auch historisch nicht zu dem suedlichen Berg- und Huegelland,
demjenigen Italien, dessen Geschichte uns hier beschaeftigt. Erst im

siebenten Jahrhundert Roms wurde das Kuestenland von Sinigaglia bis
Rimini, erst im achten das Potal Italien einverleibt; die alte Nordgrenze
Italiens sind also nicht die Alpen, sondern der Apennin. Dieser steigt
von keiner Seite in steiler Kette empor, sondern breit durch das Land
gelagert und vielfache, durch maessige Paesse verbundene Taeler und
Hochebenen einschliessend gewaehrt er selbst den Menschen eine wohl
geeignete Ansiedelungsstaette, und mehr noch gilt dies von dem
oestlich, suedlich und westlich an ihn sich anschliessenden Vor- und
Kuestenland. Zwar an der oestlichen Kueste dehnt sich, gegen Norden
von dem Bergstock der Abruzzen geschlossen und nur von dem steilen
Ruecken des Garganus inselartig unterbrochen, die apulische Ebene in
einfoermiger Flaeche mit schwach entwickelter Kuesten- und
Strombildung aus. An der Suedkueste aber zwischen den beiden
Halbinseln, mit denen der Apennin endigt, lehnt sich an das innere
Huegelland eine ausgedehnte Niederung, die zwar an Haefen arm, aber
wasserreich und fruchtbar ist. Die Westkueste endlich, ein breites, von
bedeutenden Stroemen, namentlich dem Tiber, durchschnittenes, von
den Fluten und den einst zahlreichen Vulkanen in mannigfaltigster Tal-
und Huegel-, Hafen- und Inselbildung entwickeltes Gebiet, bildet in
den Landschaften Etrurien, Latium und Kampanien den Kern des
italischen Landes, bis suedlich von Kampanien das Vorland
allmaehlich verschwindet und die Gebirgskette fast unmittelbar von
dem Tyrrhenischen Meere bespuelt wird. Ueberdies schliesst, wie an
Griechenland der Peloponnes, so an Italien die Insel Sizilien sich an,
die schoenste und groesste des Mittelmeers, deren gebirgiges und zum
Teil oedes Innere ringsum, vor allem im Osten und Sueden, mit einem
breiten Saume des herrlichsten, grossenteils vulkanischen
Kuestenlandes umguertet ist; und wie geographisch die sizilischen
Gebirge die kaum durch den schmalen "Riss" (R/e/gion) der Meerenge
unterbrochene Fortsetzung des Apennins sind, so ist auch geschichtlich
Sizilien in aelterer Zeit ebenso
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