Phantasten | Page 6

Erich von Mendelssohn
in der Nähe, der wohl zur Versorgung
einer kleinen Stadt ausreichen dürfte, und weiter oben einen großen
Fluß. Es wird aber nicht leicht sein, ihn einzufangen und hier herunter
zu leiten, denn er fällt mehrere Kilometer von hier in einem schönen
Wasserfalle direkt vom Hochplateau aus ins Meer.«
Als sie gegessen hatten - der Kapitän hatte Jakob Silberland einen Korb
mit frischem Fleisch und Gemüse aus den Vorräten des Schiffes
mitgegeben, so daß Paul Seebeck nach den vielen Wochen mit
Konservennahrung endlich einmal etwas anderes bekommen hatte - rief
Jakob Silberland:
»Aber jetzt will ich nicht länger warten; jetzt mußt du mir deine
Ichthyosauren vorführen. Ich bin wirklich sehr gespannt, zu erfahren,
wovon wir hier leben sollen, besonders, was wir von hier exportieren
können.«
»Schön«, sagte Seebeck. »Komm!«
Sie stiegen langsam in der mit Geröll bedeckten Mulde bergauf, und
Paul Seebeck erklärte dabei seinem Freunde, wie er sich die Anlage der
Stadt dachte. Der sonst so redselige Jakob Silberland sprach auch jetzt
nur wenig; zu sehr beschäftigten seinen Geist die Perspektiven auf die
Zukunft, die ihm ja tausend Träume zu verwirklichen versprach.
Als sie die Plateauhöhe erreicht hatten, blieb Seebeck stehen und sagte:
»Wenn man nicht ein anständiger Mensch wäre, könnte man bei dem
Gedanken ganz sentimental werden, daß dieses reine, unberührte Land,
das keine Geschichte und keine Vorzeit hat, eine Gemeinschaft von
Menschen auf sich wachsen und blühen sehen wird, die auch
jungfräulich frei, ohne Verbindung mit der übrigen Menschheit, ohne
morsche Traditionen und ohne überlieferten Zwang, irrende Sterne im
großen Raume sind und die hier sich nur auf Grund ihres reinen
Menschentums zusammenfinden und hier zusammenarbeiten werden.
In der Traditionslosigkeit unseres zukünftigen Staates sehe ich seine
Bedeutung. Daß ich einigen Hundert oder Tausend Menschen, die sonst
in keinen Rahmen passen, hier freie Entwicklungsmöglichkeiten und

Glück zu geben vermag, genügt mir nicht. Vom ersten Augenblick an
war mir dieser Staat ein Begriff, ein Kunstwerk, eine formale Befreiung.
Ebenso, wie der Künstler durch seine reine Darstellung befreit, durch
die einseitige, aber dadurch abschließende Form Klarheit im Chaos
schafft, soll für die übrigen Menschen der Gedanke an unsere reine
Insel eine geistige Erlösung sein.«
»Du siehst nicht weit genug«, sagte Jakob Silberland, wobei er sich mit
der Hand durch sein blauschwarzes, strähniges Haar fuhr und erregt mit
seinen kurzen Beinchen trippelte. »Du sprichst als Künstler. Ich bin
Praktiker und als solcher sehe ich noch eine Gewißheit: die
Institutionen, die hier entstehen, die wir hier schaffen werden, werden
beachtet, nachgeahmt werden, und unser Staat wird das Seinige dazu
beitragen, daß sich die Menschheit aus den Ketten löst, in die
Gewalttätigkeit, Dummheit und Herrschsucht sie gelegt haben. Sie wird
durch uns lernen, frei zu sein, frei in der geschlossenen Gemeinschaft
zu werden. Man muß ihr nur einmal zeigen, daß es möglich ist.«
Paul Seebeck sah mit seinen großen Augen dem Freunde gerade ins
Gesicht:
»Ich hoffe, daß es so wird, wie du sagst. Es ist ja auch sehr
wahrscheinlich. Umsomehr, als wir ja kaum einen bestimmten
Ausschnitt aus der Menschheit darstellen werden, nicht einen
besonderen Typus, sondern gerade einen Extrakt aus der ganzen
Menschheit. Stelle dir doch nur vor, was für Menschen zu uns kommen
werden«, fuhr er lebhaft fort, wobei er sich in der Richtung auf die
Irenenbucht zum Gehen wandte, »jedenfalls keine
Durchschnittsmenschen, die irgendwo warm und zufrieden in ihren
Nestern sitzen, sondern die Unzufriedenen, Bedrückten, Heimatlosen,
alle die von einander entferntesten Extreme, die nur das eine verbindet:
der Ekel vor der Verlogenheit der Gesellschaft, die Sehnsucht nach
dem freien, dem wirklichen Menschen, dem Menschen, der jeder
einzelne sein könnte, wenn ihn nicht die Ketten der Tradition zum
Herdentiere erniedrigten. Hierher werden sie kommen und nichts
mitbringen, als ihr innerstes, freies Menschentum, und ihre
Gemeinschaft wird die Erlösung des Menschen, des Ebenbildes Gottes

sein.«
Jetzt standen sie vor dem steilen Abfalle zur Irenenbucht. Paul Seebeck
blickte noch eine Weile schweigend und mit glänzenden Augen auf das
Meer. Dann sagte er lächelnd zu seinem Freunde, wobei er auf die
Bucht unter ihnen mit ihrem Gewirr von Klippen und Sandbänken
wies:
»Also dort unten hausen und grausen meine Ichthyosauren.«
Für Jakob Silberland kam dieser Sprung von Paul Seebecks feierlichen
Worten zum leichten Scherze so überraschend, und außerdem wußte er
gar nicht, was er aus Paul Seebecks Ichthyosauren machen sollte, daß
er schweigend seinem Freunde mit Hilfe von Strickleitern,
Eisenklammern und natürlichen Felszacken in die Tiefe folgte. Da
beide geübte Bergsteiger waren, ging der Abstieg schnell von statten.
Als sie unten auf einer breiten Felsplatte angekommen waren und auf
das Wasser sahen, das hier schlammig und voll von grünen Algen war,
sagte Paul Seebeck:
»Setz dich jetzt hier in den Schatten und verhalte dich ganz ruhig.«
Jakob Silberland tat, wie ihm geheißen. Er sah, daß Paul Seebecks
umherschweifender Blick immer wieder zu einer tiefen dunklen Spalte
in der Felsenwand zurückkehrte. Er schaute scharf hin und glaubte,
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