Phantasten | Page 5

Erich von Mendelssohn
recht genau, im Inneren bin ich flüchtiger gewesen und
außerdem habe ich größere Strecken der heißen Lava wegen nicht
betreten können. Hier hast du die ganze Insel mit den Schären eins zu
dreihunderttausend«, fuhr er fort, wobei er sich über das betreffende
Blatt beugte, »der Flächeninhalt beträgt ungefähr zwölfhundert
Quadratkilometer, wovon der Vulkan allein fast vierzig bedeckt. Hier
ist unsere Bucht eins zu zehntausend. Sie ist mit der Nebenbucht dort
rechts von uns überhaupt die einzige Bucht der ganzen Insel. Ich habe
sie bei Tiefebbe aufgenommen. Die rote Küstenlinie und die rot
gezeichneten Schären beziehen sich auf Tiefebbe, die entsprechenden
blauen Linien auf Hochflut. Du siehst, daß unzählige Schären und
Klippen nur bei Tiefebbe über die Wasserfläche emporragen. Bei
Tiefebbe ist überhaupt nur eine einzige, schmale und dabei stark
gewundene Rinne selbst für mein kleines, flaches Motorboot passierbar.
Ich kam glücklicherweise bei Hochflut, sonst wäre ich überhaupt nie
lebendig hier ans Land gekommen.« Mit der Hand aufs Meer weisend,
sagte er: »Die äußerste Felsenspitze dort links ist etwa siebenhundert
Meter hoch und fünf Kilometer von uns entfernt, die dort rechts
dreihundert Meter hoch und vier Kilometer entfernt. Die Entfernung
zwischen beiden beträgt drei Kilometer. Diese Bucht stellt den einzigen
Hafen, überhaupt die einzige Landungsmöglichkeit dar. Zwischen der

Spitze rechts und dem Kap, das ein wenig darüber hervorragt, liegt eine
zweite, breite, aber sehr flache Bucht mit unzähligen Felsen und
Klippen. Dahin kann man zu Wasser, aus Gründen, die dir später klar
werden, nicht kommen, und vom Lande aus nur mit Hilfe eines Seiles.
Sogar ich als Bergsteiger habe dort nur schwer hinunterklettern können.
Diese zweite Bucht habe ich Irenenbucht getauft, der einzige Name,
den ich bisher hier einer Örtlichkeit gegeben habe.« Lächelnd setzte er
hinzu: »Dort liegt also meine Ichthyosaurenfarm.«
Bevor der überraschte Silberland sich zu einem Worte sammeln konnte,
fuhr Paul Seebeck fort:
»Denk dir unsern Standort hier als Mittelpunkt eines Kreises mit dem
Radius von fünf Kilometern, also der Entfernung des Kap dort links.
Dann bezeichnet der Kreisbogen ziemlich genau die Grenze eines
submarinen Plateaus, auf dem alle diese Schären liegen. Wie tief der
Meeresboden außerhalb dieses Plateaus ist, weiß ich nicht; mein Lot ist
hundert Meter lang und mit ihm habe ich draußen nirgendwo Grund
gefunden. Sehr tief kann er aber doch nicht sein, denn auch da draußen
liegen ja, wie du siehst, einige vereinzelte Klippen. Das Plateau bricht
aber steil ab; ich vermute, der Schären da draußen wegen und auch aus
anderen Gründen, aber ein zweites, allerdings viel tiefer liegendes,
submarines Plateau. Der größte Teil der Insel ist eine im großen
Ganzen wagerechte Hochebene, vier- bis siebenhundert Meter über
dem Meeresspiegel, die überall fast senkrecht abbricht. Dann - ja, der
große Vulkan - neunzehnhundert Meter hoch, diese Mulde, mit ihren
sechs Quadratkilometern Fläche, die stufenweise, amphitheatralisch,
wenn du willst, bis zur Plateauhöhe emporsteigt - damit ist wohl die
Topographie der Insel erschöpft. Ich habe sonst nicht viel
Bemerkenswertes auf meinen Streifzügen entdeckt, höchstens wäre ein
seltsames Durcheinander von Schluchten erwähnenswert, das am
Fußpunkte des Vulkanes liegt und mich da am Weiterkommen
hinderte.«
»Und wie denkst du dir die Entstehung der Insel?« fragte Jakob
Silberland.
»Ich bin kein Geologe. Daß die Insel erst jetzt entstanden ist, glaube ich

nicht. Sie wird schon einmal dagewesen sein, und zwar viel größer als
jetzt, ist dann unter die Oberfläche des Meeres gesunken und hat sich
jetzt wieder darüber gehoben, doch nicht bis zu ihrer ursprünglichen
Höhe. Und zwar glaube ich nicht, daß sie sehr lange unten gewesen ist,
einige hundert Jahre höchstens.«
»Woher kannst du das wissen?«
»Die Steine sehen mir nicht aus, als ob sie lange Meeresboden gebildet
hätten.«
Damit stand Paul Seebeck auf, rollte seine Kartenskizzen zusammen
und brachte sie in sein Zelt. Als er zurückkam, sagte er, vor Jakob
Silberland stehen bleibend:
»Ist das nicht ein ganz idealer Grund für eine Stadt? Alle Straßenzüge,
sogar die Plätze der einzelnen Häuser sind von der Natur
vorausbestimmt. Ich kann mir die ganze Stadt so lebendig vorstellen,
wie sie sich den Felsen anschmiegt, wie sie in ihrer Struktur den Stufen
folgt. Aber wir müssen einen Architekten haben, der einen ganz neuen
Stil schaffen kann. Einen großzügigen Künstler wie Edgar Allan. Dort
oben -« und er wies mit der Hand auf einen vorspringenden Felsen -
»soll mein Haus stehen. Von dort aus kann ich alles übersehen.«
»Du fühlst dich schon jetzt als König?«
»König? Nein, nein!« wehrte Paul Seebeck erschrocken ab. Er sah still
vor sich hin. Dann sagte er, lächelnd wieder aufblickend:
»Komm jetzt. Wir wollen etwas zu Abend essen. Dann werde ich dir
meine Ichthyosaurenfarm zeigen.«
Da es fast Windstille war, beschlossen sie, vor dem Zelte ihre Mahlzeit
einzunehmen. Als Jakob Silberland sah, daß Paul Seebeck seinen
Destillationsapparat aufstellte, und Wasser vom Meere holte, fragte er
besorgt:
»Gibt es denn gar kein Trinkwasser auf der Insel?«

»Doch, es gibt einen Bach hier
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