Phäenomenologie des Geistes | Page 5

Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Ganze, der gewordne
einfache Begriff desselben. Die Wirklichkeit dieses einfachen Ganzen
aber besteht darin, daß jene zu Momenten gewordne Gestaltungen sich
wieder von neuem, aber in ihrem neuen Elemente, in dem gewordenen
Sinne entwickeln und Gestaltung geben.
Indem einerseits die erste Erscheinung der neuen Welt nur erst das in
seine Einfachheit verhüllte Ganze oder sein allgemeiner Grund ist, so
ist dem Bewußtsein dagegen der Reichtum des vorhergehenden
Daseins noch in der Erinnerung gegenwärtig. Es vermißt an der neu
erscheinenden Gestalt die Ausbreitung und Besonderung des Inhalts;
noch mehr aber vermißt es die Ausbildung der Form, wodurch die
Unterschiede mit Sicherheit bestimmt und in ihre festen Verhältnisse
geordnet sind. Ohne diese Ausbildung entbehrt die Wissenschaft der
allgemeinen *Verständlichkeit*, und hat den Schein, ein esoterisches
Besitztum einiger Einzelnen zu sein;--ein esoterisches Besitztum: denn
sie ist nur erst in ihrem Begriffe oder ihr Innres vorhanden; einiger
Einzelnen: denn ihre unausgebreitete Erscheinung macht ihr Dasein
zum Einzelnen. Erst was vollkommen bestimmt ist, ist zugleich
exoterisch, begreiflich, und fähig, gelernt und das Eigentum aller zu
sein. Die verständige Form der Wissenschaft ist der allen dargebotene
und für alle gleichgemachte Weg zu ihr, und durch den Verstand zum
vernünftigen Wissen zu gelangen ist die gerechte Foderung des
Bewußtseins, das zur Wissenschaft hinzutritt; denn der Verstand ist das
Denken, das reine Ich überhaupt; und das Verständige ist das schon
Bekannte und das Gemeinschaftliche der Wissenschaft und des
unwissenschaftlichen Bewußtseins, wodurch dieses unmittelbar in jene
einzutreten vermag.
Die Wissenschaft, die erst beginnt, und es also noch weder zur
Vollständigkeit des Details noch zur Vollkommenheit der Form

gebracht hat, ist dem Tadel darüber ausgesetzt. Aber wenn dieser ihr
Wesen treffen soll, so würde er ebenso ungerecht sein, als es unstatthaft
ist, die Foderung jener Ausbildung nicht anerkennen zu wollen. Dieser
Gegensatz scheint der hauptsächlichste Knoten zu sein, an dem die
wissenschaftliche Bildung sich gegenwärtig zerarbeitet und worüber sie
sich noch nicht gehörig versteht. Der eine Teil pocht auf den Reichtum
des Materials und die Verständlichkeit, der andre verschmäht
wenigstens diese und pocht auf die unmittelbare Vernünftigkeit und
Göttlichkeit. Wenn auch jener Teil, es sei durch die Kraft der Wahrheit
allein oder auch durch das Ungestüm des andern, zum Stillschweigen
gebracht ist, und wenn er in Ansehung des Grunds der Sache sich
überwältigt fühlte, so ist er darum in Ansehung jener Foderungen nicht
befriedigt, denn sie sind gerecht, aber nicht erfüllt. Sein Stillschweigen
gehört nur halb dem Siege, halb aber der Langeweile und
Gleichgültigkeit, welche die Folge einer beständig erregten Erwartung
und nicht erfolgten Erfüllung der Versprechungen zu sein pflegt.
In Ansehung des Inhalts machen die andern sich es wohl zuweilen
leicht genug, eine große Ausdehnung zu haben. Sie ziehen auf ihren
Boden eine Menge Material, nämlich das schon Bekannte und
Geordnete, herein, und indem sie sich vornehmlich mit den
Sonderbarkeiten und Kuriositäten zu tun machen, scheinen sie um so
mehr das übrige, womit das Wissen in seiner Art schon fertig war, zu
besitzen, zugleich auch das noch Ungeregelte zu beherrschen, und
somit alles der absoluten Idee zu unterwerfen, welche hiemit in allem
erkannt, und zur ausgebreiteten Wissenschaft gediehen zu sein scheint.
Näher aber diese Ausbreitung betrachtet, so zeigt sie sich nicht dadurch
zustande gekommen, daß ein und dasselbe sich selbst verschieden
gestaltet hätte, sondern sie ist die gestaltlose Wiederholung des einen
und desselben, das nur an das verschiedene Material äußerlich
angewendet ist, und einen langweiligen Schein der Verschiedenheit
erhält. Die für sich wohl wahre Idee bleibt in der Tat nur immer in
ihrem Anfange stehen, wenn die Entwicklung in nichts als in einer
solchen Wiederholung derselben Formel besteht. Die eine unbewegte
Form vom wissenden Subjekte an dem Vorhandenen herumgeführt, das
Material in dies ruhende Element von außenher eingetaucht, dies ist so
wenig, als willkürliche Einfälle über den Inhalt, die Erfüllung dessen,
was gefodert wird, nämlich der aus sich entspringende Reichtum und

sich selbst bestimmende Unterschied der Gestalten. Es ist vielmehr ein
einfarbiger Formalismus, der nur zum Unterschiede des Stoffes, und
zwar dadurch kommt, weil dieser schon bereitet und bekannt ist.
Dabei behauptet er diese Eintönigkeit und die abstrakte Allgemeinheit
für das Absolute; er versichert, daß die Ungenügsamkeit mit ihr eine
Unfähigkeit sei, sich des absoluten Standpunktes zu bemächtigen und
auf ihm festzuhalten. Wenn sonst die leere Möglichkeit, sich etwas auf
eine andere Weise vorzustellen, hinreichte, um eine Vorstellung zu
widerlegen, und dieselbe bloße Möglichkeit, der allgemeine Gedanke,
auch den ganzen positiven Wert des wirklichen Erkennens hatte, so
sehen wir hier ebenso der allgemeinen Idee in dieser Form der
Unwirklichkeit allen Wert zugeschrieben, und die Auflösung des
Unterschiedenen und Bestimmten, oder vielmehr das weiter nicht
entwickelte noch an ihm selbst sich rechtfertigende Hinunterwerfen
desselben in den Abgrund des Leeren für spekulative Betrachtungsart
gelten. Irgendein Dasein, wie es im Absoluten ist, betrachten, besteht
hier in nichts anderem, als daß davon gesagt wird, es sei zwar jetzt von
ihm gesprochen worden, als von einem
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