Phäenomenologie des Geistes | Page 4

Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Bildern ausgestattet. Von allem, was ist,
lag die Bedeutung in dem Lichtfaden, durch den es an den Himmel
geknüpft war; an ihm, statt in dieser Gegenwart zu verweilen, glitt der
Blick über sie hinaus, zum göttlichen Wesen, zu einer, wenn man so
sagen kann, jenseitigen Gegenwart hinauf. Das Auge des Geistes mußte
mit Zwang auf das Irdische gerichtet und bei ihm festgehalten werden;
und es hat einer langen Zeit bedurft, jene Klarheit, die nur das
Überirdische hatte, in die Dumpfheit und Verworrenheit, worin der
Sinn des Diesseitigen lag, hineinzuarbeiten, und die Aufmerksamkeit
auf das Gegenwärtige als solches, welche Erfahrung genannt wurde,
interessant und geltend zu machen.--Jetzt scheint die Not des
Gegenteils vorhanden, der Sinn so sehr in das Irdische festgewurzelt,
daß es gleicher Gewalt bedarf, ihn darüber zu erheben. Der Geist zeigt
sich so arm, daß er sich, wie in der Sandwüste der Wanderer nach
einem einfachen Trunk Wasser, nur nach dem dürftigen Gefühle des
Göttlichen überhaupt für seine Erquickung zu sehnen scheint. An
diesem, woran dem Geiste genügt, ist die Größe seines Verlustes zu
ermessen.
Diese Genügsamkeit des Empfangens oder Sparsamkeit des Gebens
ziemt jedoch der Wissenschaft nicht. Wer nur die Erbauung sucht, wer
seine irdische Mannigfaltigkeit des Daseins und des Gedankens in
Nebel einzuhüllen und nach dem unbestimmten Genusse dieser
unbestimmten Göttlichkeit verlangt, mag zusehen, wo er dies findet; er
wird leicht selbst sich etwas vorzuschwärmen und damit sich
aufzuspreizen die Mittel finden. Die Philosophie aber muß sich hüten,
erbaulich sein zu wollen.
Noch weniger muß diese Genügsamkeit, die auf die Wissenschaft
Verzicht tut, darauf Anspruch machen, daß solche Begeisterung und
Trübheit etwas Höheres sei als die Wissenschaft. Dieses prophetische
Reden meint gerade so recht im Mittelpunkte und der Tiefe zu bleiben,
blickt verächtlich auf die Bestimmtheit (den *Horos*) und hält sich
absichtlich von dem Begriffe und der Notwendigkeit entfernt, als von
der Reflexion, die nur in der Endlichkeit hause. Wie es aber eine leere
Breite gibt, so auch eine leere Tiefe, wie eine Extension der Substanz,
die sich in endliche Mannigfaltigkeit ergießt, ohne Kraft, sie

zusammenzuhalten--so ist dies eine gehaltlose Intensität, welche als
lautere Kraft ohne Ausbreitung sich haltend, dasselbe ist, was die
Oberflächlichkeit. Die Kraft des Geistes ist nur so groß als ihre
Äußerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich
auszubreiten und sich zu verlieren getraut.--Zugleich wenn dies
begrifflose substantielle Wissen die Eigenheit des Selbsts in dem
Wesen versenkt zu haben und wahr und heilig zu philosophieren
vorgibt, so verbirgt es sich, daß es, statt dem Gotte ergeben zu sein,
durch die Verschmähung des Maßes und der Bestimmung vielmehr nur
bald in sich selbst die Zufälligkeit des Inhalts, bald in ihm die eigne
Willkür gewähren läßt.--Indem sie sich dem ungebändigten Gären der
Substanz überlassen, meinen sie, durch die Einhüllung des
Selbstbewußtseins und Aufgeben des Verstands, die Seinen zu sein,
denen Gott die Weisheit im Schlafe gibt; was sie so in der Tat im
Schlafe empfangen und gebären, sind darum auch Träume.
Es ist übrigens nicht schwer, zu sehen, daß unsre Zeit eine Zeit der
Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit
der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen und
steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in
der Arbeit seiner Umgestaltung. Zwar ist er nie in Ruhe, sondern in
immer fortschreitender Bewegung begriffen. Aber wie beim Kinde
nach langer stiller Ernährung der erste Atemzug jene Allmählichkeit
des nur vermehrenden Fortgangs abbricht--ein qualitativer Sprung--und
itzt das Kind geboren ist, so reift der sich bildende Geist langsam und
stille der neuen Gestalt entgegen, löst ein Teilchen des Baues seiner
vorgehenden *Welt* nach dem andern auf, ihr Wanken wird nur durch
einzelne Symptome angedeutet; der Leichtsinn wie die Langeweile, die
im Bestehenden einreißen, die unbestimmte Ahnung eines
Unbekannten sind Vorboten, daß etwas anderes im Anzuge ist. Dies
allmähliche Zerbröckeln, das die Physiognomie des Ganzen nicht
veränderte, wird durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in
einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt.
Allein eine vollkommne Wirklichkeit hat dies Neue sowenig als das
eben geborne Kind; und dies ist wesentlich nicht außer acht zu lassen.
Das erste Auftreten ist erst seine Unmittelbarkeit oder sein Begriff.
Sowenig ein Gebäude fertig ist, wenn sein Grund gelegt worden,
sowenig ist der erreichte Begriff des Ganzen das Ganze selbst. Wo wir

eine Eiche in der Kraft ihres Stammes und in der Ausbreitung ihrer
Äste und den Massen ihrer Belaubung zu sehen wünschen, sind wir
nicht zufrieden, wenn uns an dieser Stelle eine Eichel gezeigt wird. So
ist die Wissenschaft, die Krone einer Welt des Geistes, nicht in ihrem
Anfange vollendet. Der Anfang des neuen Geistes ist das Produkt einer
weitläufigen Umwälzung von mannigfaltigen Bildungsformen, der
Preis eines vielfach verschlungnen Weges und ebenso vielfacher
Anstrengung und Bemühung. Er ist das aus der Sukzession wie aus
seiner Ausdehnung in sich zurückgegangene
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