Olivia, dann haben wir vielleicht einiges miteinander zu
reden. Leb' wohl, grüß' mir die Mutter.«
Sie stieg aus, aber am liebsten hätte sie jetzt mit ihm weiterfahren
mögen. Schwäche kam über sie, ihr ganzes Denken und Gefühl war
dunkler gefärbt. Alles, was sie vorhatte, Arbeiten und Vergnügungen,
dünkte ihr plötzlich falsch und einfältig. Drei Tage später fuhr sie mit
der Mutter in die Stadt zurück, und einen Tag nach der Ankunft ging
sie zu Robert Lamm.
* * * * *
In Riedach, einem kleinen oberösterreichischen Kurort, hatte der junge
Arzt Doktor Seelmann bis vor Jahresfrist seine Praxis zu allgemeiner
Zufriedenheit ausgeübt. Da hatte sich im Sommersbeginn in einer
Häuslerfamilie ein Typhusfall ereignet, und Doktor Seelmann hatte
getan, was seine beschworene Pflicht als Gemeindearzt war, er hatte
die Erkrankung zur Anzeige gebracht.
Es entstand sogleich eine große Erregung. Einige Bürger hatten noch in
letzter Stunde den Doktor an der Ausführung seines Entschlusses zu
hindern gesucht. Die Sanitätskommission selbst, deren Vorsitzender
der Bürgermeister war, hatte geltend gemacht, daß die Sommerfrischler
und Kurgäste den Ort verlassen und für lange Zeit in Verruf bringen
würden. Es war umsonst gewesen; weder Bitten, noch Versprechungen,
weder Warnungen, noch Einschüchterungen fruchteten, Doktor
Seelmann achtete die Pflicht höher als die gefährdeten Interessen der
Gemeinde.
Die unmittelbare Folge seines Schrittes war, daß eine Militärabteilung,
die in Riedach hatte einquartiert werden sollen, in einen andern Ort
befehligt wurde. Auch der wenigen Sommerparteien bemächtigte sich
Schrecken, und mehrere Familien reisten ab. Eine schmutzige Flut von
Beschimpfungen ergoß sich nun über den jungen Arzt, und alt und jung
machte der Erbitterung in den unflätigsten Formen Luft. Die Männer
erwiderten seinen Gruß nicht; sie spuckten auf der Straße vor ihm aus.
Der Metzger, der Bäcker, der Milchhändler weigerten sich, seiner Frau
die Lebensmittel zu verkaufen, die sie für sich, den Mann und das
kleine Kind brauchte. Täglich erhielt er gemeine Spott- und Drohbriefe,
die Fenster seiner Wohnung wurden ihm eingeworfen, man ging nicht
mehr in seine Sprechstunde, enthielt ihm die Bezahlung vor, und im
September wurde ihm seine Stellung als Gemeindearzt gekündigt.
Er wandte sich an den Reichsverband der Ärzte, und dieser rief die
Behörden um Unterstützung an. Der Appell war nicht vergebens,
Gemeinderat und Sanitätskommission wurden vom Statthalter aufgelöst,
der Bürgermeister seines Amtes entsetzt, die Kündigung für ungültig
erklärt, und der Bezirkshauptmann schickte eine Gendarmerie-Eskorte,
die den Arzt schützen sollte.
Doktor Seelmanns Lage besserte sich aber dadurch mit nichten. Vor
körperlichem Schaden konnte man ihn bewahren, die Praxis konnte
man ihm nicht zurückgeben; die Leute zwingen, ihm die Honorare zu
entrichten, die sie ihm seit Jahr und Tag schuldeten, konnte man nicht.
Er war ruiniert. In den verflossenen Monaten hatte er einundzwanzig
Ehrenbeleidigungsklagen vor Gericht gebracht, und jeder dieser
Prozesse wurde zu seinen Gunsten entschieden. Aber nach jedem
Prozesse kam er mutloser und hoffnungsloser heim. Seine Spannkraft
war dahin, sein Geist getrübt, seine Gesundheit erschüttert, mit vierzig
Jahren sah er wie ein Greis aus.
Daß seines Bleibens in Riedach nicht war, begriff er wohl. Riedach war
aber seine Heimat; er liebte das Land, er hatte sein Dasein hier zu
beschließen gedacht. Wohin sollte er als mittelloser Landarzt ziehen,
wohin mit Frau und Kind und einer alten, gebrechlichen Mutter? Wie
sollte er die Verleumder zum Schweigen bringen, die ihn sicher bis in
die Ferne verfolgen würden? Wie die Schmach abwaschen, mit der sie
ihn bedeckt, die Besudelung, die Kränkung vergessen? Ein neues
Leben anzufangen, fehlte ihm das Selbstvertrauen; er hatte keinen
Freund, der ihn aufrichtete, die Tröstungen seines Weibes beugten ihn
nur noch tiefer, denn er spürte ihre eigene Verzweiflung darin. So brach
er zusammen, wurde krank und starb. Der Arzt, der ihn behandelte,
nannte eine Gehirnentzündung als Ursache seines Todes, aber in
Wirklichkeit hatten ihn der Kummer und der Lebensekel getötet.
Der Reichsverband der Ärzte stellte nun den Anspruch an den Staat, für
die Hinterbliebenen zu sorgen, die der bittersten Not preisgegeben
waren. Dies wurde bewilligt, aber in so kargem Ausmaß, daß die
Hilfeleistung beinahe wie Hohn aussah. Einer von den Männern, die
sich dafür eingesetzt hatten und den Fehlschlag ihrer Erwartung nicht
ruhig hinnehmen wollten, bezeichnete den Hofrat Lamm als den
einzigen, dessen Beistand und Vermittlung den halbwegs gescheiterten
Plan noch zum Erfolg führen konnte. Ihm allein traute man die
Entschlossenheit zu, ihn allein hielt man für unabhängig genug, daß er
es als hoher Staatsbeamter wagen durfte, für den begangenen Frevel
eine Sühne zu verlangen, die freilich verspätet war, jedoch die
beleidigte Gerechtigkeit wieder erhöhte.
Der Hofrat hatte von dem Martyrium des Arztes nichts gehört; die
Zeitungen hatten alle Berichte unterdrückt, die sonstige Kunde, die im
Dunkel umlief, war nicht zu ihm gedrungen. Er vernahm die Erzählung
der Geschehnisse mit unbeweglichem Gesicht. Den Abgesandten, die
ihm Vortrag hielten, begegnete er mit seiner unverbindlichen und
trockenen Höflichkeit, ohne mit einer Miene zu verraten, daß ihm die
Angelegenheit näher ging als irgendein anderer Hader zwischen
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