Olivia oder Die unsichtbare Lampe | Page 7

Jakob Wasserman
in Ekles
verwandelt, als stünde dort, wo eine frohe Erwartung sie hingezogen,
ein Schreckbild. Sie staunte, sie sträubte sich, sie glaubte nicht und
fürchtete doch, zu zweifeln. Alles war plötzlich sonderbar anders.
An ihrer Schweigsamkeit merkten Eduard und Marianne, daß etwas mit
ihr vorgegangen war. Sie hatten am selben Tag weiter wandern wollen,
aber Olivia konnte sich nicht zum Aufbruch entschließen und schützte
eine Unpäßlichkeit vor. Ingbert fühlte sich in dem teuren und eleganten
Hotel nicht behaglich, und da die Geschwister zögerten, die Tour ohne
Olivia fortzusetzen, sagte er, er wolle allein seiner Wege gehen. Um
sich zu verabschieden, kam er in Olivias Zimmer und fand sie in tiefem
Nachdenken. Sie gab ihm die Hand, und als sie spürte, daß er ihren
Blick forderte, sah sie ihn an. Ein wortloses Einanderbegreifen hatte
sich zwischen ihnen schon seit langem entfaltet. Der bekümmerte
Ausdruck in seinem klugen, ernsten Gesicht ging ihr nahe. Ehe sie es

bedacht hatte, zog sie seinen Kopf herab und küßte ihn. Er errötete wie
ein Knabe, seine Verwirrung erfüllte sie mit noch größerer Liebe, er
drückte seine Lippen auf ihre Hand und verließ sie stumm.
Es trieb sie zu Robert hin, und wenn sie bei ihm war, erschien sie sich
treulos gegen Eduard und Marianne. Und wenn sie bei Eduard und
Marianne war, peinigte sie deren argloses Wesen, und die beiden
Menschen waren ihr verdunkelt und entrückt. Marianne, die über
Ingberts Flucht unglücklich war und Pläne schmiedete, wie man ihn
noch erreichen könnte, nahm Olivias verändertes Betragen nicht schwer
und war offen und anschmiegend wie immer; Eduard jedoch deutete
alles auf sich und sein Verhältnis zu Olivia. Seine Erregung wuchs, er
suchte eine Aussprache herbeizuführen, er bat sie schließlich, ihm den
Grund ihrer rätselhaften Abkehr mitzuteilen. Sie erschrak; sie leugnete.
Er ging nicht weiter darauf ein und sagte, daß er mit Anita Gröger
gebrochen habe. Sie wußte, was nun folgen würde, sie hatte Angst
davor, und mit einer Kälte, die ihn bleich machte, verbot sie ihm, davon
zu sprechen. Da gingen sie auseinander.
Am selben Abend schlug ihr Robert Lamm vor, sie solle mit ihm nach
Hause reisen. Sie willigte ein, ihn bis Salzburg zu begleiten, wo ihre
Mutter sie erwartete. Zu Eduard und Marianne sagte sie, die Mutter
habe ihr geschrieben und sie gerufen. Sie umarmte Marianne mit dem
Gefühl einer Trennung für immer, Eduard schaute sie starr an, und so
oft sie nachher an sein verstörtes Gesicht dachte, wurde ihr weh zumute,
und sie hätte die Erinnerung auslöschen mögen.
Gegen den Hofrat war sie einsilbig, er seinerseits sprach nur von
gleichgültigen Dingen. Sie grollte ihm, wagte sich aber dem Groll nicht
zu überlassen; sie vermied es, seinem Blick zu begegnen, der während
der langen Eisenbahnfahrt zuweilen prüfend auf ihr ruhte, und als sie
von Innsbruck ab allein im Coupé waren, brach sie selbst das
Schweigen aus unbestimmter Angst. Sie begann von Menschen zu
sprechen, die sie beide kannten und von denen sie annahm, daß er sie
schätzte. Sie redete sich in Eifer, entschuldigte Gewohnheiten und
Handlungen dieser Menschen und übertrieb ihre Vorzüge, als seien sie
von ihm angegriffen worden. Er hörte mit scheinbarem Anteil zu,

nickte manchmal ermunternd und schaute in die Landschaft.
Da erschien ihr alles falsch und einfältig, was sie sagte, sie mochte die
schönen Gegenden nicht betrachten, durch die sie fuhren, und sie fühlte
mit Betrübnis, daß sie all dieses Schöne nicht mehr so liebte wie sie es
bisher geliebt. Es war, als hätte Robert Lamm einen Schleier darüber
gezogen, und als sei es fruchtlos, sich gegen die stumme
Gewalttätigkeit, die er an ihr übte, zu wehren. Desungeachtet zwang es
sie, ihn kurz vor dem Ziel ihrer Reise zu fragen, ob sie ihn nach ihrer
Rückkehr in die Stadt sehen werde. Sie hätte aufgeatmet, wenn er nein
gesagt oder eine Ausflucht gebraucht hätte. Er antwortete: »Freilich
will ich dich sehen.« Und als sie schwieg, fügte er düster lächelnd
hinzu: »Vielleicht brauch' ich dich.«
Sie war ängstlich verwundert. »Brauchen? Du -- mich?«
»Kommt dir das so unglaublich vor?« Er lachte über ihr hilfloses
Gesicht. Plötzlich, der Zug fuhr schon in die Halle, beugte er sich nahe
zu ihr, ergriff ihre beiden Hände und sagte mit jener Eindringlichkeit,
die sie bei keinem andern Menschen als bei ihm wahrgenommen hatte:
»Ich kämpfe gegenwärtig einen Kampf, in dem für mich alles auf dem
Spiel steht. Ich kämpfe für die Ehre eines Toten, für die Rettung seines
guten Namens, für sein Weib und seine Kinder. Sie wollen ein
Verbrechen, das begangen worden ist, vertuschen, wollen die
ungeheuerlichste Niedertracht, die sich denken läßt, nicht verantworten.
Das darf nicht geschehen, verstehst du? Es darf nicht geschehen,
obwohl ähnliches schon tausendmal geschehen ist. Aber bei diesem
einen Mal hab' ich mir in den Kopf gesetzt: es darf nicht sein.
Geschieht es trotzdem, dann bin ich fertig mit der Wirtschaft. Dann
komm zu mir,
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