Parteien. Er ließ sich alle einschlägigen Akten kommen, auch die der
einundzwanzig Prozesse, und las und studierte sie mit
aufeinandergebissenen Zähnen. Dann zauderte er nicht mehr, zu
handeln. Er forderte die Regierung auf, nicht nur mit genügenden
Geldmitteln die Mutter, die Witwe und die Waise des in Ausübung
seiner Pflicht und seines Amtes gemordeten Doktor Seelmann zu
unterstützen, des gemordeten, so lautete sein Diktum; nicht nur alle
schuldigen Bürger und behördlichen Organe von Riedach zu einer
scharfen Strafe zu verurteilen; sondern auch durch eine öffentliche und
feierliche Erklärung die geschändete Ehre und den verunglimpften
Namen des Toten vor den Augen der Welt von allem Makel zu befreien.
Denn ein solcher Mann sei, genau wie ein Soldat auf dem Schlachtfeld,
für das Vaterland, für die Menschheit gefallen und habe sich den
gleichen Dank verdient.
Diese unumwundene Sprache begegnete verlegenen Ausflüchten. Er
drängte auf eindeutigen Bescheid, man antwortete, daß man den Fall
noch einmal gründlich untersuchen wolle. Das Bestreben, Zeit zu
gewinnen, war offenbar; der Hofrat kannte die verwickelten Auswege
und die rostige Maschinerie zu gut, um sich damit beschwichtigen zu
lassen. Er ging zum Minister; der erklärte sich als mangelhaft
unterrichtet, schützte wichtigere Geschäfte vor und wies ihn an den
Sektionschef Friesheim. Hier täuschte Gleichgültigkeit durch gefälligen
Eifer; auch mit dieser Taktik war der Hofrat vertraut. Er ließ den
Herren keine Ruhe, er bestand auf seiner Forderung, er pochte auf das
Recht. Man hörte ihn an, man zuckte die Achseln, jeder versicherte
seine Willigkeit, jeder beteuerte machtlos zu sein. Überall dieselbe
scheinbare Nachgiebigkeit, dieselbe Lauheit. Robert Lamm fürchtete,
alles zu verderben, wenn er seinen Zorn nicht bändigen konnte. In den
Salzburger Bergen hatte er, vor langer Zeit schon, eine Alm und ein
Blockhaus gekauft; dorthin floh er, so oft ihm des Ärgers und der Plage
zu viel wurde. Er tat es auch jetzt und nahm sich vor, geduldig zu
warten. Aber diesmal graute ihm vor der Einsamkeit; er fuhr nach
Karersee, wo er zahlreiche Bekannte zu treffen sicher war, wo er sich
zerstreuen, betäuben konnte. Zwei Tage nach dem Gespräch mit Olivia
erhielt er in der Sache des Doktors Seelmann den schriftlichen
Bescheid des Ministeriums: die sachliche Entschädigung betreffend,
habe man die Gelder zum reichlichen Unterhalt der Familie bewilligt,
alle übrigen Ansprüche müsse man aber aus wohlerwogenen Gründen
zurückweisen.
»Die Gründe will ich wissen,« knirschte der Hofrat. Er packte seine
Koffer und reiste. In seiner finstern Ungeduld kam ihm die
Eisenbahnfahrt wie ein boshaft langsamer Schneckengang vor. Gleich
nach seiner Ankunft eilte er zu den verantwortlichen Stellen.
An Gründen war man nicht arm. Wozu einen verjährten Streitfall
aufwärmen, einen glücklich begrabenen Skandal mutwillig noch einmal
vor die Öffentlichkeit zerren? Wozu sonst friedliche Bürger wegen
immerhin zweifelhafter und schwer nachweisbarer Vergehen schädigen
oder gar um ihre Existenz bringen? Es ist doch nun alles so schön
geglättet und vergessen, wozu den Brand wieder anblasen, wozu böses
Blut machen? Wozu endlich die Komödie einer Ehrenerklärung, die
dem Toten nicht mehr nützen und die Lebenden nur verdrießen würde?
»Ein glücklich begrabener Skandal ist euch das!« rief Robert Lamm
mit funkelnden Augen. »Schön geglättet und vergessen findet ihr alles?
Nun, wir werden sehen, ob euch nicht angst und bange wird vor
Gespenstern.«
Er drohte Lärm zu schlagen. Die Geschichte wurde bedenklich; der
Störenfried begann höchst unbequem zu werden. Man konnte ihm
nichts anhaben, zu viele stützten ihn, er war zu beliebt. Daher jubelte
man im stillen, als er in seinem Zorn die Saite zu straff spannte und um
seinen Abschied bat. Es war ein Schreckmittel, er glaubte nicht, daß
man ihn würde gehen lassen, er hatte ein zu starkes Bewußtsein von
seiner Notwendigkeit und der Wichtigkeit seiner Dienste. Allein der
Abschied wurde gewährt. Da er schon vor Jahren in einer
Angelegenheit, die den Hof berührt hatte, zu scharf ins Zeug gegangen
war, brauchte man Tadel oder Einwand von oben nicht zu fürchten.
Das traf ihn unerwartet. Es dauerte Tage, ja Wochen, bis er sich wieder
gesammelt hatte. Die Zustände waren also noch viel heilloser, viel
giftiger, als er sich eingebildet hatte. Er war wie gelähmt. Er ließ die
Sache, für die er sich geopfert, auf sich beruhen. Er wich den Menschen
aus, wurde scheu und wunderlich. Er verließ seine Stadtwohnung und
zog sich ganz in seine Villa zurück.
Diese Villa lag am Ende der Südwestvorstadt, nahe den bewaldeten
Hügeln und inmitten eines großen Gartens, der vor neugierigen Blicken
durch eine hohe, steinerne Mauer geschützt war. Die zahlreichen
Räume enthielten Schätze von Gemälden, Statuen, Büchern, Porzellan
und alten Möbeln. Der Hofrat ließ aber die Zimmer versperrt und
nistete sich in einer Giebelkammer ein. Die Haushälterin kochte für ihn,
und der Diener Gerold, eine Art Faktotum, sorgte für seine übrigen
Bedürfnisse.
* * * * *
Anfangs hatte ihn Olivia beinahe täglich gesehen. Entweder kam er zu
ihr, unterhielt sich eine Weile mit der Mutter und forderte Olivia auf,
ihn
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