Olivia oder Die unsichtbare Lampe | Page 6

Jakob Wasserman
ein Gruß an ihr Ohr; sie drehte sich um und gewahrte den
Hofrat. Er war in Steirertracht; auf dem Lodenhut stak ein
reichbuschiger Gemsbart. Er glich nicht einem verkleideten Städter,
sondern sah ganz urwüchsig aus, sehnig, robust, sonnegebräunt.
Er nannte ihr die welsch klingenden Namen der Gipfel und Gletscher,
die gegen Süden lagen, und erzählte ihr von den Touren, die er gemacht.
Er fragte, ob sie gefrühstückt habe, und als sie verneinte, gab er ihr eine
Tafel Schokolade. Zuerst angeregt, schien er plötzlich wieder zerstreut.
Dann beschämte ihn ein forschender Blick Olivias, und er zwang sich
zum Reden. Da dies Olivia peinigte, fragte sie ihn geradezu nach dem
Grund seiner gestrigen jähen Verstimmung.
Er bedachte sich kurz und antwortete, er habe schon davon gehört, daß
sie fleißig im Hause Friesheim verkehre; die beiden jungen Leute, in
deren Begleitung sie sich befinde, seien ja wohl Sohn und Tochter des
Sektionschefs. Olivia nickte. Wenn dem so sei, fuhr er fort, erübrigten
sich alle Erklärungen. Seine Stimme war schneidend, sein Blick finster.
Olivia blieb stehen und schaute ihn erstaunt an.
Sie waren auf einem Felsenpfad, ziemlich hoch; zur Linken fiel der
Abgrund steil hinunter. Auf einmal fühlte sich Olivia von den Händen
des Hofrats heftig an den Armen gepackt und mit unerwarteter Kraft
gegen die Tiefe gedrängt. Sie schrie erschrocken, ihr bestürztes Gesicht
war ihm zugewendet; da ließ er sie los und lachte grimmig. »Es ist
nicht viel anders, als wenn ich dich da hineinwürfe,« sagte er;
»schlimmer noch. Mit solchen Menschen umgehen, das heißt, allen
Anspruch auf Achtung verwirken und seinen Namen beflecken.«
Mit entsetzten Augen fragte Olivia. »Du hättest dich vorsehen sollen,«

begann der Hofrat wieder; »eine Person wie du ist verpflichtet, Instinkt
zu haben und nicht in den Dreck zu steigen, wo er am klebrigsten ist.
Dieser Mann, in dessen Gehege du so munter herumspazierst, ist einer
unserer verderblichsten Praktikenmacher und Gelegenheitsjäger, ein
Streber und Schleicher von einem Format, daß sogar unsere
vielbesungene Gemütlichkeit keinen Reim mehr auf ihn zu finden weiß.
Dieser Mann ist imstande, wenn sich zehn fähige Leute zu einem
Posten gemeldet haben, ihn mit dem elften zu besetzen, der gänzlich
unfähig ist, und nicht vielleicht aus Unwissenheit, nicht immer bloß
deshalb, weil der elfte ein Freunderl oder der Freund eines Freunderls
ist, sondern aus purem Vergnügen an der Unfähigkeit und aus Bosheit
und Neid gegen die Fähigen. Dieser Mann ist einer von denen, die nie
einen Richter brauchen, weil sie alles Recht so lange verschleppen, bis
der Kläger erschöpft und kirre gemacht ist; einer von denen, die mit der
Peitsche auf die Pferde einhauen, wenn der Wagen den Berg hinauf soll,
und insgeheim den Hemmschuh ans Rad legen. Dieser Mann ist ein
Symbol, er ist mein Feind, er ist schlechthin der Feind; ihn unschädlich
zu machen, habe ich schon meine beste Kraft verschwendet. Und nun
geh hin und setz' dich wieder an seinen Tisch und tu, als wüßtest du
von nichts.«
Er hatte scharf und kalt gesprochen wie ein Sachwalter vor dem
Tribunal. Olivia zitterte das Herz; sie ging mit niedergeschlagenen
Augen gleich einem gescholtenen Kind. Der Hofrat nahm einen Stein,
schleuderte ihn in den Abgrund und lauschte bis das Gepolter
verklungen war. Dann lachte er.
»Warum lachst du?« flüsterte Olivia, ohne den Kopf zu erheben.
»Ich lache, weil es so schön ist,« antwortete er, »weil die Sonne so
freundlich scheint und der Himmel so blau ist. Und weil unser Herrgott
soviel Geduld hat. Und weil die Bowle gestern so vorzüglich war, und
weil überhaupt alles so famos ist.«
Plötzlich dünkte es Olivia, als sei die ganze Welt grau geworden.
Sie sagte: »Ich habe bisher nichts von deinem Leben gewußt, Robert.
Ich habe dich für einen Menschen gehalten, der in seinem Beruf

glücklich ist.«
Abermals ließ er sein kurzes, höhnisches Lachen hören. Dann schwieg
er eine Weile, und sein Gesicht wurde ernst. Darauf fing er an, von
seinem Leben zu sprechen, von dem Beruf, in dem sie ihn glücklich
wähnte. Von den Untergebenen und den Vorgesetzten; wie ihn jene
lähmten und diese ihm mißtrauten. Wie nirgends ein Wille galt,
nirgends Einsicht des Besseren, nirgends Vernunft, bloß Vorschrift,
bloß der Buchstabe, das halbe Ungefähr, das veraltete Gutdünken, die
sinnlose Herrschaft derer vom Schlage Friesheim. Wie jeder Schritt
nach vorwärts auf Fallen stoße, das wohlwollende Ermessen selbst im
engsten Kreis behindert sei durch unangreifbare Idole und lügenhafte
Grundsätze. Wie kein Weg aus diesem Pfuhl führe, an dem nicht die
Dummheit Wache hielt, oder die Phrase, oder die Pedanterie, oder die
Verleumdung, oder die Bequemlichkeit, oder der Eigennutz, oder der
Neid.
Es war Flamme in seinen Worten, dabei auch Witz; eine bissige
Schadenfreude, als bereite es ihm Spaß, Illusionen zu zerstören.
Und er zerstörte Illusionen, gründlich. Ein eisiger Hauch wehte durch
Olivias Brust. Ihre Augen blickten verloren, ihre Wangen waren blaß;
es war, als hätte sich etwas Schmackhaftes auf ihrer Zunge
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