Olivia oder Die unsichtbare Lampe | Page 5

Jakob Wasserman
auf der Bank geblieben, man hörte ihn eines der alten
Lieder singen, die er liebte und in entzückender Weise vorzutragen
wußte. Marianne preßte Olivias Finger; Olivia hatte ein selig
hinziehendes Gefühl; sie wünschte, Ingbert möge sie holen und mit ihr
weit fortwandern.
Sie fragte sich, weshalb er sich Marianne nicht eröffnete, und wartete,
daß sie sich gegeneinander aussprachen. Dies geschah aber nicht, und
Olivia zürnte Ingbert. Doch wenn sie Marianne ansah, die so kindlich
hoffte, verstand sie seine Unschlüssigkeit. Er hatte etwas so Gütiges an
sich, daß man billigen mußte, was immer er tat, und bald wurde Olivia
gewahr, daß ihre Gedanken an ihn zum Verrat an Marianne wurden.

Indessen kehrte Eduard von seiner Reise zurück und brachte zwei
Freunde mit; auch Freundinnen Olivias und Mariannes kamen zu
Besuch. Es entwickelte sich eine lebhafte Geselligkeit, Feste wurden
gefeiert, Fahrten und Wanderungen unternommen. Eduard suchte bei
jedem Anlaß Olivias Nähe, Ingbert und Olivia trieben wie durch eine
unwiderstehliche Strömung einander im verborgenen zu; Marianne
begann endlich zu ahnen und litt still, und Anita Gröger war der
ruhlose Geist, der bisweilen verdüsternd durch die herzlich bewegte
Kleinwelt zog.
Stiegen auch Schatten empor, für Olivia war alles noch ein Spiel. In der
Luft von Leidenschaft und Begehren, Forderung und Abwehr,
Spannung und Sehnsucht atmete sie gern, verlor sich aber keineswegs
und übte sich in jeder Kraft, die das Lebensgefühl erhöhte. Hier eine
Getäuschte, dort ein Schwankender, hier eine Verblendete, dort ein
Entflammter, sie stand immer in der Mitte und regierte; sie knüpfte
Fäden und löste Fäden, verpflichtete sich zum Schein, entzog sich,
wenn Gefahr drohte, ganz nach ihrem Gefallen.
* * * * *
Gegen Ende des Sommers, als die Gäste schon abgereist waren,
verabredeten sich die Geschwister und Ingbert und Olivia zu einem
Ausflug in die Dolomiten.
An einem Augustabend kamen sie müde und staubbedeckt vom
Rosengarten her ins Karerseehotel, und als sie in die für Touristen
bestimmte Wirtschaftsstube traten, bot sich ihnen ein wunderliches
Bild. Um einen Tisch waren mehr als zwanzig junge Mädchen in
Abendkleidern gruppiert; ein Herr, der den Frack ausgezogen und die
Ärmel des Frackhemdes über die Ellbogen gestülpt hatte, bereitete in
einer mächtigen Schüssel eine Bowle. Auf dem Tisch standen
Champagner- und Weinflaschen, Gefäße mit Erdbeeren und Zucker.
Voll sachlichem Ernst verrichtete der Herr seine Arbeit, mischte die
Getränke, rührte mit dem Löffel, kostete mit einem andern Löffel, und
immer, wenn ihm eines der Mädchen eine Flasche reichte, sagte er
etwas, worüber alle in fröhliches Gelächter ausbrachen.

Sie kamen vom Diner und hatten die sogenannte Schwemme
aufgesucht, um in ihrer Lustigkeit nicht gestört zu sein.
Olivia, die sich anfangs um die Gesellschaft nicht gekümmert hatte,
schaute dann doch hinüber, fast ein wenig neidisch, und als die Gruppe
auseinandertrat, weil die Gläser zum Einschenken gebracht wurden,
erkannte sie in dem Mann an der Bowlenschüssel den Hofrat Lamm.
Sie errötete vor Freude.
Sie hatte ihn seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, aber er war
unverändert. Trotz seiner fünfundvierzig Jahre war seine Gestalt noch
jugendlich schlank, seine Haltung straff und sein Gesicht frisch.
Er warf einen seiner durchdringenden Blicke an den Tisch, wo die vier
saßen, und erkannte nun auch Olivia. Er verbeugte sich in seiner
ironisch galanten Art, ohne besondere Überraschung zu zeigen, als
hätte er sie gestern erst gesehen. Es verdroß Olivia, daß er nicht kam,
um sie zu begrüßen; sie ärgerte sich über die jungen Mädchen, die ihn
so zudringlich umschwärmten, und fand ihre Ausgelassenheit gemacht.
Als er nach einer Weile das Glas gegen sie hob, um ihr zuzutrinken,
dankte sie kühl.
Eduard fragte spöttisch, wer der Hahn im Korbe sei, sie gab unwillig
Auskunft, mußte aber plötzlich lachen, da sie eine sarkastische
Bemerkung des Hofrats über eines der Mädchen aufgefangen hatte. Die
andern Mädchen kreischten, jetzt kamen auch einige junge Männer
hinzu, und die Gesellschaft wurde sehr lärmend. Der Hofrat hatte
seinen Frack wieder angezogen, und plötzlich schritt er auf Olivia zu
und reichte ihr die Hand.
Olivia stellte ihre Freunde vor. Bei dem Namen Friesheim zuckte er
sichtlich zusammen. Er nahm am Tische Platz, und obwohl er drüben
die beste Laune gezeigt hatte, war er seit dem Augenblick, wo er sich
an den Tisch gesetzt hatte, einsilbig und verstimmt. Mit gerunzelter
Stirn stellte er ein paar Fragen, dann erhob er sich wieder,
verabschiedete sich steif und ging aus dem Zimmer. Die jungen
Mädchen riefen ihm nach, aber er kümmerte sich nicht um sie.

Olivia war bedrückt wie schon lange nicht. Sie sagte, sie wolle schlafen
gehen, nahm ihren Rucksack und ließ sich von der Kellnerin in eine der
Touristenkammern führen. Trotz ihrer Müdigkeit schlief sie schlecht.
Schon um fünf Uhr stand sie auf und ging hinaus. Die Berge waren von
der frühen Sonne umglüht, aus dem Wald strömte ein feuchter, kalter,
harziger Duft. Sie ging über einen Wiesenweg und bog wie eine
Trinkende den Kopf zurück.
Da schallte
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