es nicht übers Herz bringt, sie zu stören.«
Diese Begründung war für den Hofrat ein Schall. Olivia war schön; das
allein gab ihr Wert in seinen Augen. Alle Beflissenen waren häßlich;
Bücher machten häßlich, Wissen machte häßlich, sich unter die
Menschen zu drängen, machte häßlich. Auf Sportplätzen die Glieder
verrenken, die Füße durch plumpes Schuhwerk verunstalten und mit
groben Stoffen bekleidet sich den Unbilden des Wetters aussetzen, das
nannte er ein unerquickliches Schauspiel. Der Schönheit floß alles zu,
sie raubte der Natur nichts, sie ließ sich von ihr beschenken, Schönheit
war einsam, war sich selbst genug, sich selbst Gesetz, und Olivia
verging sich gegen das Gesetz.
Er erkaltete gegen Olivia, und seine Besuche wurden immer seltener.
* * * * *
Um diese Zeit wurde Olivia von einer heftigen Schwärmerei für einen
genialen Kapellmeister und Komponisten ergriffen, der wie ein Feuer
unter die Gilde der stadtansässigen Musiker gefahren war und das
Publikum erst unterwarf, als es sich von seinem Staunen über ihn erholt
hatte.
Er war mit dem Hofrat Lamm befreundet, und einmal begegnete sie
den beiden, die in eifrigem Gespräch waren. Der Hofrat grüßte sie und
blieb stehen; er machte sie mit dem vergötterten Manne bekannt. Sie
wurde blaß, stammelte ein paar Worte, verstummte und ging dann
weiter. Sie hatte seine Stimme gehört, und diese Stimme blieb ihr
unvergeßlich. Die Stimme eines Menschen konnte sie beleidigen und
enttäuschen, aber auch beglücken und bezaubern. Seine Stimme hatte
ihre Seele tiefer angerührt als irgendeine zuvor.
Im Sommer weilte er auf seiner Besitzung an einem Gebirgssee. Olivia
wußte die Mutter zu überreden, daß sie dort die Ferien verbrachten. An
vielen Tagen, in Mondnächten wandelte sie andächtig die Pfade, auf
denen er gegangen war. Seine persönliche Nähe suchte sie gar nicht; er
war immer so versponnen, so verwühlt, so abgewandt; sie war
zufrieden, wenn sie ihn einmal des Tages von ferne sah.
Eines Morgens gewahrte sie ihn zwischen Blumenbeeten. Er glaubte
sich unbeobachtet; bei einem Strauß beugte er sich nieder, um zu
riechen. Die Zärtlichkeit der Bewegung hatte für Olivia etwas
Außerordentliches. Von da an schaute sie Blumen mit andern Augen an.
Es mußten stets Blumen in ihrem Zimmer sein, zu jeder Zeit des Jahres.
Sie begoß sie, pflegte sie, freute sich, wenn sie blühten, und trauerte,
wenn sie welkten.
Als der Musiker eines frühen Todes starb, gab sie alles Geld, das sie
besaß, für Blumen aus und schmückte mit ihnen sein Grab. Die
unschuldige und wunschlose Leidenschaft hatte ihr Herz für Menschen
noch empfänglicher gemacht.
Gelehrtes und Gelerntes verlor an Bedeutung gegenüber dem
lebendigen Auf und Ab der Schicksale. Freunde zu gewinnen, mit
Freunden zu sein, an Freunde sich auszuteilen, war Glück. So wurde sie
vielfach in die Geschicke der Menschen verflochten, vielfach
beansprucht. Manches, was im Spiel begonnen war, verwandelte sich in
bitteren Ernst; Vertrauen wurde mißbraucht, Offenheit verkannt, Güte
zurückgestoßen, Wahrheit in Lüge verkehrt. Aber auch dies war für
Olivia ein Stück des großen Reichtums, waren angefaulte Früchte von
dem Baum, der ein Übermaß der guten gab.
Wie liebte sie die Welt, das Leben, die Stunde! Sie freute sich jeden
Morgen über ihr Erwachen, über den Himmel, die Luft, das Licht, die
Zeit, über alles, was sie sich vorgesetzt hatte und was andere von ihr
erwarteten, über ein Gespräch, das sie gestern geführt hatte, einen
Spaziergang, den sie heute machen wollte, über ihren eigenen Körper,
über jedes Ding in ihrer Stube.
* * * * *
Ihre beste Freundin, noch vom Gymnasium her, war Marianne von
Friesheim, ein zartes, hochaufgeschossenes Mädchen von ernstem
Wesen. Mariannes Vater war ein hoher Regierungsbeamter,
Sektionschef und Exzellenz, und durch seine Verheiratung mit der
Tochter eines ungarischen Magnaten einer der reichsten Männer des
Landes.
Olivia kam beinahe täglich ins Haus, und alle, von der Exzellenz bis
zum geringsten Dienstboten, bewunderten und verwöhnten sie. Wenn
der Sektionschef ins Zimmer trat, wo sie war, ging ein Leuchten über
sein rotes, grobes Gesicht; er setzte sich eine Weile zu ihr und plauderte
mit ihr. Olivia hatte Sympathie für ihn; er schien ein gütiger Vater und
ein wohlwollender Mensch zu sein.
Frau von Friesheim machte Olivia zur Vertrauten ihrer Sorgen. Ihr
Sohn Eduard, ein junger Arzt, hatte seit einigen Monaten eine
Beziehung zu einer Dame der Gesellschaft, deren mittelpunktloses und
unberechenbares Wesen schon manchem ihrer Anbeter verhängnisvoll
geworden war. Eduard, ohnehin verschlossenen Gemüts und von
eigenwilliger Lebenshaltung, wurde durch den Umgang mit dieser Frau
den Seinen vollends entfremdet. Nur an der Schwester hing er, und ihr
hatte er auch vor kurzem mitgeteilt, daß es sein Vorsatz sei, die geliebte
Frau zu heiraten. Hierüber war Frau von Friesheim sehr unglücklich,
und als sie bemerkte, daß zwischen Eduard und Olivia ein
freundschaftliches Verhältnis entstand, legte sie ihr nahe, sie möge alles
aufbieten, um ihn dem gefährlichen Einfluß jener Frau zu entziehen.
Es war eine wunderliche Aufgabe; Olivia mußte lachen. Auf der
anderen Seite war
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