Kurort, hatte der junge Arzt Doktor Seelmann bis vor Jahresfrist seine Praxis zu allgemeiner Zufriedenheit ausgeübt. Da hatte sich im Sommersbeginn in einer H?uslerfamilie ein Typhusfall ereignet, und Doktor Seelmann hatte getan, was seine beschworene Pflicht als Gemeindearzt war, er hatte die Erkrankung zur Anzeige gebracht.
Es entstand sogleich eine gro?e Erregung. Einige Bürger hatten noch in letzter Stunde den Doktor an der Ausführung seines Entschlusses zu hindern gesucht. Die Sanit?tskommission selbst, deren Vorsitzender der Bürgermeister war, hatte geltend gemacht, da? die Sommerfrischler und Kurg?ste den Ort verlassen und für lange Zeit in Verruf bringen würden. Es war umsonst gewesen; weder Bitten, noch Versprechungen, weder Warnungen, noch Einschüchterungen fruchteten, Doktor Seelmann achtete die Pflicht h?her als die gef?hrdeten Interessen der Gemeinde.
Die unmittelbare Folge seines Schrittes war, da? eine Milit?rabteilung, die in Riedach hatte einquartiert werden sollen, in einen andern Ort befehligt wurde. Auch der wenigen Sommerparteien bem?chtigte sich Schrecken, und mehrere Familien reisten ab. Eine schmutzige Flut von Beschimpfungen ergo? sich nun über den jungen Arzt, und alt und jung machte der Erbitterung in den unfl?tigsten Formen Luft. Die M?nner erwiderten seinen Gru? nicht; sie spuckten auf der Stra?e vor ihm aus. Der Metzger, der B?cker, der Milchh?ndler weigerten sich, seiner Frau die Lebensmittel zu verkaufen, die sie für sich, den Mann und das kleine Kind brauchte. T?glich erhielt er gemeine Spott- und Drohbriefe, die Fenster seiner Wohnung wurden ihm eingeworfen, man ging nicht mehr in seine Sprechstunde, enthielt ihm die Bezahlung vor, und im September wurde ihm seine Stellung als Gemeindearzt gekündigt.
Er wandte sich an den Reichsverband der ?rzte, und dieser rief die Beh?rden um Unterstützung an. Der Appell war nicht vergebens, Gemeinderat und Sanit?tskommission wurden vom Statthalter aufgel?st, der Bürgermeister seines Amtes entsetzt, die Kündigung für ungültig erkl?rt, und der Bezirkshauptmann schickte eine Gendarmerie-Eskorte, die den Arzt schützen sollte.
Doktor Seelmanns Lage besserte sich aber dadurch mit nichten. Vor k?rperlichem Schaden konnte man ihn bewahren, die Praxis konnte man ihm nicht zurückgeben; die Leute zwingen, ihm die Honorare zu entrichten, die sie ihm seit Jahr und Tag schuldeten, konnte man nicht. Er war ruiniert. In den verflossenen Monaten hatte er einundzwanzig Ehrenbeleidigungsklagen vor Gericht gebracht, und jeder dieser Prozesse wurde zu seinen Gunsten entschieden. Aber nach jedem Prozesse kam er mutloser und hoffnungsloser heim. Seine Spannkraft war dahin, sein Geist getrübt, seine Gesundheit erschüttert, mit vierzig Jahren sah er wie ein Greis aus.
Da? seines Bleibens in Riedach nicht war, begriff er wohl. Riedach war aber seine Heimat; er liebte das Land, er hatte sein Dasein hier zu beschlie?en gedacht. Wohin sollte er als mittelloser Landarzt ziehen, wohin mit Frau und Kind und einer alten, gebrechlichen Mutter? Wie sollte er die Verleumder zum Schweigen bringen, die ihn sicher bis in die Ferne verfolgen würden? Wie die Schmach abwaschen, mit der sie ihn bedeckt, die Besudelung, die Kr?nkung vergessen? Ein neues Leben anzufangen, fehlte ihm das Selbstvertrauen; er hatte keinen Freund, der ihn aufrichtete, die Tr?stungen seines Weibes beugten ihn nur noch tiefer, denn er spürte ihre eigene Verzweiflung darin. So brach er zusammen, wurde krank und starb. Der Arzt, der ihn behandelte, nannte eine Gehirnentzündung als Ursache seines Todes, aber in Wirklichkeit hatten ihn der Kummer und der Lebensekel get?tet.
Der Reichsverband der ?rzte stellte nun den Anspruch an den Staat, für die Hinterbliebenen zu sorgen, die der bittersten Not preisgegeben waren. Dies wurde bewilligt, aber in so kargem Ausma?, da? die Hilfeleistung beinahe wie Hohn aussah. Einer von den M?nnern, die sich dafür eingesetzt hatten und den Fehlschlag ihrer Erwartung nicht ruhig hinnehmen wollten, bezeichnete den Hofrat Lamm als den einzigen, dessen Beistand und Vermittlung den halbwegs gescheiterten Plan noch zum Erfolg führen konnte. Ihm allein traute man die Entschlossenheit zu, ihn allein hielt man für unabh?ngig genug, da? er es als hoher Staatsbeamter wagen durfte, für den begangenen Frevel eine Sühne zu verlangen, die freilich versp?tet war, jedoch die beleidigte Gerechtigkeit wieder erh?hte.
Der Hofrat hatte von dem Martyrium des Arztes nichts geh?rt; die Zeitungen hatten alle Berichte unterdrückt, die sonstige Kunde, die im Dunkel umlief, war nicht zu ihm gedrungen. Er vernahm die Erz?hlung der Geschehnisse mit unbeweglichem Gesicht. Den Abgesandten, die ihm Vortrag hielten, begegnete er mit seiner unverbindlichen und trockenen H?flichkeit, ohne mit einer Miene zu verraten, da? ihm die Angelegenheit n?her ging als irgendein anderer Hader zwischen Parteien. Er lie? sich alle einschl?gigen Akten kommen, auch die der einundzwanzig Prozesse, und las und studierte sie mit aufeinandergebissenen Z?hnen. Dann zauderte er nicht mehr, zu handeln. Er forderte die Regierung auf, nicht nur mit genügenden Geldmitteln die Mutter, die Witwe und die Waise des in Ausübung seiner Pflicht und seines Amtes gemordeten Doktor Seelmann zu unterstützen, des gemordeten, so lautete sein Diktum; nicht nur alle schuldigen Bürger und beh?rdlichen Organe von Riedach zu einer scharfen Strafe zu verurteilen; sondern auch durch eine ?ffentliche und feierliche Erkl?rung die gesch?ndete
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