Olivia oder Die unsichtbare Lampe | Page 9

Jakob Wasserman
Ehre und den verunglimpften Namen des Toten vor den Augen der Welt von allem Makel zu befreien. Denn ein solcher Mann sei, genau wie ein Soldat auf dem Schlachtfeld, für das Vaterland, für die Menschheit gefallen und habe sich den gleichen Dank verdient.
Diese unumwundene Sprache begegnete verlegenen Ausflüchten. Er dr?ngte auf eindeutigen Bescheid, man antwortete, da? man den Fall noch einmal gründlich untersuchen wolle. Das Bestreben, Zeit zu gewinnen, war offenbar; der Hofrat kannte die verwickelten Auswege und die rostige Maschinerie zu gut, um sich damit beschwichtigen zu lassen. Er ging zum Minister; der erkl?rte sich als mangelhaft unterrichtet, schützte wichtigere Gesch?fte vor und wies ihn an den Sektionschef Friesheim. Hier t?uschte Gleichgültigkeit durch gef?lligen Eifer; auch mit dieser Taktik war der Hofrat vertraut. Er lie? den Herren keine Ruhe, er bestand auf seiner Forderung, er pochte auf das Recht. Man h?rte ihn an, man zuckte die Achseln, jeder versicherte seine Willigkeit, jeder beteuerte machtlos zu sein. überall dieselbe scheinbare Nachgiebigkeit, dieselbe Lauheit. Robert Lamm fürchtete, alles zu verderben, wenn er seinen Zorn nicht b?ndigen konnte. In den Salzburger Bergen hatte er, vor langer Zeit schon, eine Alm und ein Blockhaus gekauft; dorthin floh er, so oft ihm des ?rgers und der Plage zu viel wurde. Er tat es auch jetzt und nahm sich vor, geduldig zu warten. Aber diesmal graute ihm vor der Einsamkeit; er fuhr nach Karersee, wo er zahlreiche Bekannte zu treffen sicher war, wo er sich zerstreuen, bet?uben konnte. Zwei Tage nach dem Gespr?ch mit Olivia erhielt er in der Sache des Doktors Seelmann den schriftlichen Bescheid des Ministeriums: die sachliche Entsch?digung betreffend, habe man die Gelder zum reichlichen Unterhalt der Familie bewilligt, alle übrigen Ansprüche müsse man aber aus wohlerwogenen Gründen zurückweisen.
?Die Gründe will ich wissen,? knirschte der Hofrat. Er packte seine Koffer und reiste. In seiner finstern Ungeduld kam ihm die Eisenbahnfahrt wie ein boshaft langsamer Schneckengang vor. Gleich nach seiner Ankunft eilte er zu den verantwortlichen Stellen.
An Gründen war man nicht arm. Wozu einen verj?hrten Streitfall aufw?rmen, einen glücklich begrabenen Skandal mutwillig noch einmal vor die ?ffentlichkeit zerren? Wozu sonst friedliche Bürger wegen immerhin zweifelhafter und schwer nachweisbarer Vergehen sch?digen oder gar um ihre Existenz bringen? Es ist doch nun alles so sch?n gegl?ttet und vergessen, wozu den Brand wieder anblasen, wozu b?ses Blut machen? Wozu endlich die Kom?die einer Ehrenerkl?rung, die dem Toten nicht mehr nützen und die Lebenden nur verdrie?en würde?
?Ein glücklich begrabener Skandal ist euch das!? rief Robert Lamm mit funkelnden Augen. ?Sch?n gegl?ttet und vergessen findet ihr alles? Nun, wir werden sehen, ob euch nicht angst und bange wird vor Gespenstern.?
Er drohte L?rm zu schlagen. Die Geschichte wurde bedenklich; der St?renfried begann h?chst unbequem zu werden. Man konnte ihm nichts anhaben, zu viele stützten ihn, er war zu beliebt. Daher jubelte man im stillen, als er in seinem Zorn die Saite zu straff spannte und um seinen Abschied bat. Es war ein Schreckmittel, er glaubte nicht, da? man ihn würde gehen lassen, er hatte ein zu starkes Bewu?tsein von seiner Notwendigkeit und der Wichtigkeit seiner Dienste. Allein der Abschied wurde gew?hrt. Da er schon vor Jahren in einer Angelegenheit, die den Hof berührt hatte, zu scharf ins Zeug gegangen war, brauchte man Tadel oder Einwand von oben nicht zu fürchten.
Das traf ihn unerwartet. Es dauerte Tage, ja Wochen, bis er sich wieder gesammelt hatte. Die Zust?nde waren also noch viel heilloser, viel giftiger, als er sich eingebildet hatte. Er war wie gel?hmt. Er lie? die Sache, für die er sich geopfert, auf sich beruhen. Er wich den Menschen aus, wurde scheu und wunderlich. Er verlie? seine Stadtwohnung und zog sich ganz in seine Villa zurück.
Diese Villa lag am Ende der Südwestvorstadt, nahe den bewaldeten Hügeln und inmitten eines gro?en Gartens, der vor neugierigen Blicken durch eine hohe, steinerne Mauer geschützt war. Die zahlreichen R?ume enthielten Sch?tze von Gem?lden, Statuen, Büchern, Porzellan und alten M?beln. Der Hofrat lie? aber die Zimmer versperrt und nistete sich in einer Giebelkammer ein. Die Haush?lterin kochte für ihn, und der Diener Gerold, eine Art Faktotum, sorgte für seine übrigen Bedürfnisse.
* * * * *
Anfangs hatte ihn Olivia beinahe t?glich gesehen. Entweder kam er zu ihr, unterhielt sich eine Weile mit der Mutter und forderte Olivia auf, ihn zu begleiten, oder sie ging zu ihm. Wenn er arbeitete, setzte sie sich in eine Ecke, nahm ein Buch und las.
Von dem, was ihn in dieser Zeit erfüllte, sprach er nicht. Sie erfuhr es von andern. Jeder entstellte es auf seine Weise, aber es genügte, da? sie Robert Lamm anschaute, dann rückte sich alles zurecht. Sie war stolz auf ihn, nichtsdestoweniger drückte sein Wesen sie nieder, ohne da? sie wu?te, wie es geschah. Er war vertraulich und herzlich, dennoch schien es, als rede er mit ihr durch eine Wand hindurch. Da? sie ihm nicht n?her kommen konnte,
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