Menschliches, Allzumenschliches | Page 6

Friedrich Wilhelm Nietzsche
innerlich von ihm durchdrungen sind, so dass sie immer
noch gedankenlos alte Formen nachmachen (und diess schlecht genug,
wie es jemand thut, dem nicht mehr viel an einer Sache liegt). Ehemals
war der Geist nicht durch strenges Denken in Anspruch genommen, da
lag sein Ernst im Ausspinnen von Symbolen und Formen. Das hat sich
verändert; jener Ernst des Symbolischen ist zum Kennzeichen der
niederen Cultur geworden; wie unsere Künste selber immer
intellectualer, unsere Sinne geistiger werden, und wie man zum
Beispiel jetzt ganz anders darüber urtheilt, was sinnlich wohltönend ist,
als vor hundert Jahren: so werden auch die Formen unseres Lebens
immer geistiger, für das Auge älterer Zeiten vielleicht hässlicher, aber
nur weil es nicht zu sehen vermag, wie das Reich der inneren, geistigen
Schönheit sich fortwährend vertieft und erweitert und in wie fern uns
Allen der geistreiche Blick jetzt mehr gelten darf, als der schönste
Gliederbau und das erhabenste Bauwerk.
4.

Astrologie und Verwandtes. - Es ist wahrscheinlich, dass die Objecte
des religiösen, moralischen und ästhetischen Empfindens ebenfalls nur
zur Oberfläche der Dinge gehören, während der Mensch gerne glaubt,
dass er hier wenigstens an das Herz der Welt rühre; er täuscht sich, weil
jene Dinge ihn so tief beseligen und so tief unglücklich machen, und
zeigt also hier denselben Stolz wie bei der Astrologie. Denn diese
meint, der Sternenhimmel drehte sich um das Loos des Menschen; der
moralische Mensch aber setzt voraus, Das, was ihm wesentlich am
Herzen liege, müsse auch Wesen und Herz der Dinge sein.
5.
Missverständniss des Traumes. - Im Traume glaubte der Mensch in den
Zeitaltern roher uranfänglicher Cultur eine zweite reale Welt kennen zu
lernen; hier ist der Ursprung aller Metaphysik. Ohne den Traum hätte
man keinen Anlass zu einer Scheidung der Welt gefunden. Auch die
Zerlegung in Seele und Leib hängt mit der ältesten Auffassung des
Traumes zusammen, ebenso die Annahme eines Seelenscheinleibes,
also die Herkunft alles Geisterglaubens, und wahrscheinlich auch des
Götterglaubens. "Der Todte lebt fort; denn er erscheint dem Lebenden
im Traume": so schloss man ehedem, durch viele Jahrtausende
hindurch.
6.
Der Geist der Wissenschaft im Theil, nicht im Ganzen mächtig. - Die
abgetrennten kleinsten Gebiete der Wissenschaft werden rein sachlich
behandelt: die allgemeinen grossen Wissenschaften dagegen legen, als
Ganzes betrachtet, die Frage - eine recht unsachliche Frage freilich -
auf die Lippen: wozu? zu welchem Nutzen? Wegen dieser Rücksicht
auf den Nutzen werden sie, als Ganzes, weniger unpersönlich, als in
ihren Theilen behandelt. Bei der Philosophie nun gar, als bei der Spitze
der gesammten Wissenspyramide, wird unwillkürlich die Frage nach
dem Nutzen der Erkenntniss überhaupt aufgeworfen, und jede
Philosophie hat unbewusst die Absicht, ihr den höchsten Nutzen
zuzuschreiben. Desshalb giebt es in allen Philosophien so viel
hochfliegende Metaphysik und eine solche Scheu vor den unbedeutend
erscheinenden Lösungen der Physik; denn die Bedeutsamkeit der
Erkenntniss für das Leben soll so gross als möglich erscheinen. Hier ist
der Antagonismus zwischen den wissenschaftlichen Einzelgebieten und
der Philosophie. Letztere will, was die Kunst will, dem Leben und

Handeln möglichste Tiefe und Bedeutung geben; in ersteren sucht man
Erkenntniss und Nichts weiter, - was dabei auch herauskomme. Es hat
bis jetzt noch keinen Philosophen gegeben, unter dessen Händen die
Philosophie nicht zu einer Apologie der Erkenntniss geworden wäre; in
diesem Puncte wenigstens ist ein jeder Optimist, dass dieser die
höchste Nützlichkeit zugesprochen werden müsse. Sie alle werden von
der Logik tyrannisirt: und diese ist ihrem Wesen nach Optimismus.
7.
Der Störenfried in der Wissenschaft. Die Philosophie schied sich von
der Wissenschaft, als sie die Frage stellte: welches ist diejenige
Erkenntniss der Welt und des Lebens, bei welcher der Mensch am
glücklichsten lebt? Diess geschah in den sokratischen Schulen: durch
den Gesichtspunct des Glücks unterband man die Blutadern der
wissenschaftlichen Forschung - und thut es heute noch.
8.
Pneumatische Erklärung der Natur. - Die Metaphysik erklärt die Schrift
der Natur gleichsam pneumatisch, wie die Kirche und ihre Gelehrten es
ehemals mit der Bibel thaten. Es gehört sehr viel Verstand dazu, um auf
die Natur die selbe Art der strengeren Erklärungskunst anzuwenden,
wie jetzt die -Philologen sie für alle Bücher geschaffen haben: mit der
Absicht, schlicht zu verstehen, was die Schrift sagen will, aber nicht
einen doppelten Sinn zu wittern, ja vorauszusetzen. Wie aber selbst in
Betreff der Bücher die schlechte Erklärungskunst keineswegs völlig
überwunden ist und man in der besten gebildeten Gesellschaft noch
fortwährend auf Ueberreste allegorischer und mystischer Ausdeutung
stösst: so steht es auch in Betreff der Natur - ja noch viel schlimmer.
9.
Metaphysische Welt. - Es ist wahr, es könnte eine metaphysische Welt
geben; die absolute Möglichkeit davon ist kaum zu bekämpfen. Wir
sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf
nicht abschneiden; während doch die Frage übrig bleibt, was von der
Welt noch da wäre, wenn man ihn doch abgeschnitten hätte. Diess ist
ein rein wissenschaftliches Problem und nicht sehr geeignet,
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