Menschliches, Allzumenschliches | Page 7

Friedrich Wilhelm Nietzsche
den
Menschen Sorgen zu machen; aber Alles, was ihnen bisher
metaphysische Annahmen werthvoll, schreckenvoll, lustvoll gemacht,
was sie erzeugt hat, ist Leidenschaft, Irrthum und Selbstbetrug; die
allerschlechtesten Methoden der Erkenntniss, nicht die allerbesten,

haben daran glauben lehren. Wenn man diese Methoden, als das
Fundament aller vorhandenen Religionen und Metaphysiken,
aufgedeckt hat, hat man sie widerlegt. Dann bleibt immer noch jene
Möglichkeit übrig; aber mit ihr kann man gar Nichts anfangen,
geschweige denn, dass man Glück, Heil und Leben von den
Spinnenfäden einer solchen Möglichkeit abhängen lassen dürfte. -
Denn man könnte von der metaphysischen Welt gar Nichts aussagen,
als ein Anderssein, ein uns unzugängliches, unbegreifliches Anderssein;
es wäre ein Ding mit negativen Eigenschaften. - Wäre die Existenz
einer solchen Welt noch so gut bewiesen, so stünde doch fest, dass die
gleichgültigste aller Erkenntnisse eben ihre Erkenntniss wäre: noch
gleichgültiger als dem Schiffer in Sturmesgefahr die Erkenntniss von
der chemischen Analysis des Wassers sein muss.
10.
Harmlosigkeit der Metaphysik in der Zukunft. - Sobald die Religion,
Kunst und Moral in ihrer Entstehung so beschrieben sind, dass man sie
vollständig sich erklären kann, ohne zur Annahme metaphysischer
Eingriffe am Beginn und im Verlaufe der Bahn seine Zuflucht zu
nehmen, hört das stärkste Interesse an dem rein theoretischen Problem
vom "Ding an sich" und der "Erscheinung" auf. Denn wie es hier auch
stehe: mit Religion, Kunst und Moral rühren wir nicht an das "Wesen
der Welt an sich"; wir sind im Bereiche der Vorstellung, keine
"Ahnung" kann uns weitertragen. Mit voller Ruhe wird man die Frage,
wie unser Weltbild so stark sich von dem erschlossenen Wesen der
Welt unterscheiden könne, der Physiologie und der
Entwickelungsgeschichte der Organismen und Begriffe überlassen.
11.
Die Sprache als vermeintliche Wissenschaft. - Die Bedeutung der
Sprache für die Entwickelung der Cultur liegt darin, dass in ihr der
Mensch eine eigene Welt neben die andere stellte, einen Ort, welchen
er für so fest hielt, um von ihm aus die übrige Welt aus den Angeln zu
heben und sich zum Herrn derselben zu machen. Insofern der Mensch
an die Begriffe und Namen der Dinge als an aeternae veritates durch
lange Zeitstrecken hindurch geglaubt hat, hat er sich jenen Stolz
angeeignet, mit dem er sich über das Thier erhob: er meinte wirklich in
der Sprache die Erkenntniss der Welt zu haben. Der Sprachbildner war
nicht so bescheiden, zu glauben, dass er den Dingen eben nur

Bezeichnungen gebe, er drückte vielmehr, wie er wähnte, das höchste
Wissen über die Dinge mit den Worten aus; in der That ist die Sprache
die erste Stufe der Bemühung um die Wissenschaft. Der Glaube an die
gefundene Wahrheit ist es auch hier, aus dem die mächtigsten
Kraftquellen geflossen sind. Sehr nachträglich -jetzt erst - dämmert es
den Menschen auf, dass sie einen ungeheuren Irrthum in ihrem Glauben
an die Sprache propagirt haben. Glücklicherweise ist es zu spät, als
dass es die Entwickelung der Vernunft, die auf jenem Glauben beruht,
wieder rückgängig machen könnte. - Auch die Logik beruht auf
Voraussetzungen, denen Nichts in der wirklichen Welt entspricht, z.B.
auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen, der Identität des
selben Dinges in verschiedenen Puncten der Zeit: aber jene
Wissenschaft entstand durch den entgegengesetzten Glauben (dass es
dergleichen in der wirklichen Welt allerdings gebe). Ebenso steht es
mit der Mathematik, welche gewiss nicht entstanden wäre, wenn man
von Anfang an gewusst hätte, dass es in der Natur keine exact gerade
Linie, keinen wirklichen Kreis, kein absolutes Grössenmaass gebe.
12.
Traum und Cultur.- Die Gehirnfunction, welche durch den Schlaf am
meisten beeinträchtigt wird, ist das Gedächtniss: nicht dass es ganz
pausirte, - aber es ist auf einen Zustand der Unvollkommenheit
zurückgebracht, wie es in Urzeiten der Menschheit bei jedermann am
Tage und im Wachen gewesen sein mag. Willkürlich und verworren,
wie es ist, verwechselt es fortwährend die Dinge auf Grund der
flüchtigsten Aehnlichkeiten: aber mit der selben Willkür und
Verworrenheit dichteten die Völker ihre Mythologien, und noch jetzt
pflegen Reisende zu beobachten, wie sehr der Wilde zur
Vergesslichkeit neigt, wie sein Geist nach kurzer Anspannung des
Gedächtnisses hin und her zu taumeln beginnt und er, aus blosser
Erschlaffung, Lügen und Unsinn hervorbringt. Aber wir Alle gleichen
im Traume diesem Wilden; das schlechte Wiedererkennen und
irrthümliche Gleichsetzen ist der Grund des schlechten Schliessens,
dessen wir uns im Traume schuldig machen: so dass wir, bei deutlicher
Vergegenwärtigung eines Traumes, vor uns erschrecken, weil wir so
viel Narrheit in uns bergen. - Die vollkommene Deutlichkeit aller
Traum-Vorstellungen, welche den unbedingten Glauben an ihre
Realität zur Voraussetzung hat, erinnert uns wieder an Zustände

früherer Menschheit, in der die Hallucination ausserordentlich häufig
war und mitunter ganze Gemeinden, ganze Völker gleichzeitig ergriff.
Also: im Schlaf und Traum machen wir das Pensum früheren
Menschenthums noch einmal durch.
13.
Logik des Traumes. - Im Schlafe ist fortwährend unser Nervensystem
durch mannichfache innere Anlässe in Erregung, fast alle Organe
secerniren und
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 110
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.