Menschliches, Allzumenschliches | Page 5

Friedrich Wilhelm Nietzsche
den ersten und letzten Dingen.
1.
Chemie der Begriffe und Empfindungen. - Die Philosophischen
Probleme nehmen jetzt wieder fast in allen Stücken dieselbe Form der
Frage an, wie vor zweitausend Jahren.- wie kann Etwas aus seinem
Gegensatz entstehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Vernunftlosem,
Empfindendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses
Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben für Andere aus Egoismus,
Wahrheit aus Irrthümern? Die metaphysische Philosophie half sich
bisher über diese Schwierigkeit hinweg, insofern sie die Entstehung des
Einen aus dem Andern leugnete und für die höher gewertheten Dinge
einen Wunder-Ursprung annahm, unmittelbar aus dem Kern und Wesen
des "Dinges an sich" heraus. Die historische Philosophie dagegen,
welche gar nicht mehr getrennt von der Naturwissenschaft zu denken
ist, die allerjüngste aller philosophischen Methoden, ermittelte in
einzelnen Fällen (und vermuthlich wird diess in allen ihr Ergebniss
sein), dass es keine Gegensätze sind, ausser in der gewohnten
Uebertreibung der populären oder metaphysischen Auffassung und dass
ein Irrthum der Vernunft dieser Gegenüberstellung zu Grunde liegt:
nach ihrer Erklärung giebt es, streng gefasst, weder ein unegoistisches
Handeln, noch ein völlig interesseloses Anschauen, es sind beides nur
Sublimirungen, bei denen das Grundelement fast verflüchtigt erscheint
und nur noch für die feinste Beobachtung sich als vorhanden erweist. -
Alles, was wir brauchen und was erst bei der gegenwärtigen Höhe der
einzelnen Wissenschaften uns gegeben werden kann, ist eine Chemie
der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und
Empfindungen, ebenso aller jener Regungen, welche wir im Gross- und
Kleinverkehr der Cultur und Gesellschaft, ja in der Einsamkeit an uns
erleben: wie, wenn diese Chemie mit dem Ergebniss abschlösse, dass
auch auf diesem Gebiete die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja
verachteten Stoffen gewonnen sind? Werden Viele Lust haben, solchen

Untersuchungen zu folgen? Die Menschheit liebt es, die Fragen über
Herkunft und Anfänge sich aus dem Sinn zu schlagen: muss man nicht
fast entmenscht sein, um den entgegengesetzten Hang in sich zu spüren?
-
2.
Erbfehler der Philosophen. - Alle Philosophen haben den gemeinsamen
Fehler an sich, dass sie vom gegenwärtigen Menschen ausgehen und
durch eine Analyse desselben an's Ziel zu kommen meinen.
Unwillkürlich schwebt ihnen "der Mensch" als eine aeterna veritas, als
ein Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sicheres Maass der Dinge
vor. Alles, was der Philosoph über den Menschen aussagt, ist aber im
Grunde nicht mehr, als ein Zeugniss über den Menschen eines sehr
beschränkten Zeitraumes. Mangel an historischem Sinn ist der
Erbfehler aller Philosophen; manche sogar nehmen unversehens die
allerjüngste Gestaltung des Menschen, wie eine solche unter dem
Eindruck bestimmter Religionen, ja bestimmter politischer Ereignisse
entstanden ist, als die feste Form, von der man ausgehen müsse. Sie
wollen nicht lernen, dass der Mensch geworden ist, dass auch das
Erkenntnissvermögen geworden ist; während Einige von ihnen sogar
die ganze Welt aus diesem Erkenntnissvermögen sich herausspinnen
lassen. - Nun ist alles Wesentliche der menschlichen Entwickelung in
Urzeiten vor sich gegangen, lange vor jenen vier tausend Jahren, die
wir ungefähr kennen; in diesen mag sich der Mensch nicht viel mehr
verändert haben. Da sieht aber der Philosoph "Instincte" am
gegenwärtigen Menschen und nimmt an, dass diese zu den
unveränderlichen Thatsachen des Menschen gehören und insofern
einen Schüssel zum Verständniss der Welt überhaupt abgeben können;
die ganze Teleologie ist darauf gebaut, dass man vom Menschen der
letzten vier Jahrtausende als von einem ewigen redet, zu welchem hin
alle Dinge in der Welt von ihrem Anbeginne eine natürliche Richtung
haben. Alles aber ist geworden; es giebt keine ewigen Thatsachen:
sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt. - Demnach ist das
historische Philosophiren von jetzt ab nöthig und mit ihm die Tugend
der Bescheidung.
3.
Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten. - Es ist das Merkmal einer
höhern Cultur, die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit

strenger Methode gefunden wurden, höher zu schätzen, als die
beglückenden und blendenden Irrthümer, welche metaphysischen und
künstlerischen Zeitaltern und Menschen entstammen. Zunächst hat man
gegen erstere den Hohn auf den Lippen, als könne hier gar nichts
Gleichberechtigtes gegen einander stehen: so bescheiden, schlicht,
nüchtern, ja scheinbar entmuthigend stehen diese, so schön, prunkend,
berauschend, ja vielleicht beseligend stehen jene da. Aber das mühsam
Errungene, Gewisse, Dauernde und desshalb für jede weitere
Erkenntniss noch Folgenreiche ist doch das Höhere, zu ihm sich zu
halten ist männlich und zeigt Tapferkeit, Schlichtheit, Enthaltsamkeit
an. Allmählich wird nicht nur der Einzelne, sondern die gesammte
Menschheit zu dieser Männlichkeit emporgehoben werden, wenn sie
sich endlich an die höhere Schätzung der haltbaren, dauerhaften
Erkenntnisse gewöhnt und allen Glauben an Inspiration und
wundergleiche Mittheilung von Wahrheiten verloren hat. - Die
Verehrer der Formen freilich, mit ihrem Maassstabe des Schönen und
Erhabenen, werden zunächst gute Gründe zu spotten haben, sobald die
Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten und der wissenschaftliche
Geist anfängt zur Herrschaft zu kommen: aber nur weil entweder ihr
Auge sich noch nicht dem Reiz der schlichtesten Form erschlossen hat
oder weil die in jenem Geiste erzogenen Menschen noch lange nicht
völlig und
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