Menschliches, Allzumenschliches | Page 4

Friedrich Wilhelm Nietzsche
dahin dunkel, fragwürdig, fast
unberührbar in seinem Gedächtniss gewartet hatte. Wenn er sich lange
kaum zu fragen wagte "warum so abseits? so allein? Allem entsagend,
was ich verehrte? der Verehrung selbst entsagend? warum diese Härte,

dieser Argwohn, dieser Hass auf die eigenen Tugenden?" - jetzt wagt
und fragt er es laut und hört auch schon etwas wie Antwort darauf. "Du
solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden.
Früher waren sie deine Herren; aber sie dürfen nur deine Werkzeuge
neben andren Werkzeugen sein. Du solltest Gewalt über dein Für und
Wider bekommen und es verstehn lernen, sie aus- und wieder
einzuhängen, je nach deinem höheren Zwecke. Du solltest das
Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen - die
Verschiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte
und was Alles zum Perspektivischen gehört; auch das Stück Dummheit
in Bezug auf entgegengesetzte Werthe und die ganze intellektuelle
Einbusse, mit der sich jedes Für, jedes Wider bezahlt macht. Du solltest
die nothwendige Ungerechtigkeit in jedem Für und Wider begreifen
lernen, die Ungerechtigkeit als unablösbar vom Leben, das Leben selbst
als bedingt durch das Perspektivische und seine Ungerechtigkeit. Du
solltest vor Allem mit Augen sehn, wo die Ungerechtigkeit immer am
grössten ist: dort nämlich, wo das Leben am kleinsten, engsten,
dürftigsten, anfänglichsten entwickelt ist und dennoch nicht umhin
kann, sich als Zweck und Maass der Dinge zu nehmen und seiner
Erhaltung zu Liebe das Höhere, Grössere, Reichere heimlich und
kleinlich und unablässig anzubröckeln und in Frage zu stellen, - du
solltest das Problem der Rangordnung mit Augen sehn und wie Macht
und Recht und Umfänglichkeit der Perspektive mit einander in die
Höhe wachsen. Du solltest" - genug, der freie Geist weiss nunmehr,
welchem "du sollst" er gehorcht hat, und auch, was er jetzt kann, was er
jetzt erst - darf...
7.
Dergestalt giebt der freie Geist sich in Bezug auf jenes Räthsel von
Loslösung Antwort und endet damit, indem er seinen Fall
verallgemeinert, sich über sein Erlebniss also zu entscheiden. "Wie es
mir ergieng, sagt er sich, muss es jedem ergehn, in dem eine Aufgabe
leibhaft werden und `zur Welt kommen` will." Die heimliche Gewalt
und Nothwendigkeit dieser Aufgabe wird unter und in seinen einzelnen
Schicksalen walten gleich einer unbewussten Schwangerschaft, - lange,
bevor er diese Aufgabe selbst in's Auge gefasst hat und ihren Namen
weiss. Unsre Bestimmung verfügt über uns, auch wenn wir sie noch
nicht kennen; es ist die Zukunft, die unserm Heute die Regel giebt.

Gesetzt, dass es das Problem der Rangordnung ist, von dem wir sagen
dürfen, dass es unser Problem ist, wir freien Geister: jetzt, in dem
Mittage unsres Lebens, verstehn wir es erst, was für Vorbereitungen,
Umwege, Proben, Versuchungen, Verkleidungen das Problem nöthig
hatte, ehe es vor uns aufsteigen durfte, und wie wir erst die vielfachsten
und widersprechendsten Noth- und Glücksstände an Seele und Leib
erfahren mussten, als Abenteurer und Weltumsegler jener inneren Welt,
die "Mensch" heisst, als Ausmesser jedes "Höher" und
"Uebereinander", das gleichfalls "Mensch" heisst - überallhin dringend,
fast ohne Furcht, nichts verschmähend, nichts verlierend, alles
auskostend, alles vom Zufälligen reinigend und gleichsam aussiebend -
bis wir endlich sagen durften, wir freien Geister: "Hier - ein neues
Problem! Hier eine lange Leiter, auf deren Sprossen wir selbst gesessen
und gestiegen sind, - die wir selbst irgend wann gewesen sind! Hier ein
Höher, ein Tiefer, ein Unter-uns, eine ungeheure lange Ordnung, eine
Rangordnung, die wir sehen hier - unser Problem!" -
8.
- Es wird keinem Psychologen und Zeichendeuter einen Augenblick
verborgen bleiben, an welche Stelle der eben geschilderten
Entwicklung das vorliegende Buch gehört (oder gestellt ist -). Aber wo
giebt es heute Psychologen? In Frankreich, gewiss; vielleicht in
Russland; sicherlich nicht in Deutschland. Es fehlt nicht an Gründen,
weshalb sich dies die heutigen Deutschen sogar noch zur Ehre
anrechnen könnten: schlimm genug für Einen, der in diesem Stücke
undeutsch geartet und gerathen ist! Dies deutsche Buch, welches in
einem weiten Umkreis von Ländern und Völkern seine Leser zu finden
gewusst hat - es ist ungefähr zehn Jahr unterwegs - und sich auf irgend
welche Musik und Flötenkunst verstehn muss, durch die auch spröde
Ausländer-Ohren zum Horchen verführt werden, - gerade in
Deutschland ist dies Buch am nachlässigsten gelesen, am schlechtesten
gehört worden: woran liegt das? - "Es verlangt zu viel, hat man mir
geantwortet, es wendet sich an Menschen ohne die Drangsal grober
Pflichten, es will feine und verwöhnte Sinne, es hat Ueberfluss nöthig,
Ueberfluss an Zeit, an Helligkeit des Himmels und Herzens, an otium
im verwegensten Sinne: - lauter gute Dinge, die wir Deutschen von
Heute nicht haben und also auch nicht geben können." - Nach einer so
artigen Antwort räth mir meine Philosophie, zu schweigen und nicht

mehr weiter zu fragen; zumal man in gewissen Fällen, wie das
Sprüchwort andeutet, nur dadurch Philosoph bleibt, dass man -
schweigt.
Nizza, im Frühling 1886.

Erstes Hauptstück.
Von
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