Menschliches, Allzumenschliches | Page 3

Friedrich Wilhelm Nietzsche
er versucht, wie
diese Dinge aussehn, wenn man sie umkehrt. Es ist Willkür und Lust an
der Willkür darin, wenn er vielleicht nun seine Gunst dem zuwendet,
was bisher in schlechtem Rufe stand, - wenn er neugierig und
versucherisch um das Verbotenste schleicht. Im Hintergrunde seines
Treibens und Schweifens - denn er ist unruhig und ziellos unterwegs
wie in einer Wüste - steht das Fragezeichen einer immer gefährlicheren
Neugierde. "Kann man nicht alle Werthe umdrehn? und ist Gut
vielleicht Böse? und Gott nur eine Erfindung und Feinheit des Teufels?
Ist Alles vielleicht im letzten Grunde falsch? Und wenn wir Betrogene
sind, sind wir nicht eben dadurch auch Betrüger? müssen wir nicht
auch Betrüger sein?" - solche Gedanken führen und verführen ihn,
immer weiter fort, immer weiter ab. Die Einsamkeit umringt und
umringelt ihn, immer drohender, würgender, herzzuschnürender, jene

furchtbare Göttin und mater saeva cupidinum - aber wer weiss es heute,
was Einsamkeit ist?...
4.
Von dieser krankhaften Vereinsamung, von der Wüste solcher
Versuchs-Jahre ist der Weg noch weit bis zu jener ungeheuren
überströmenden Sicherheit und Gesundheit, welche der Krankheit
selbst nicht entrathen mag, als eines Mittels und Angelhakens der
Erkenntniss, bis zu jener reifen Freiheit des Geistes, welche ebensosehr
Selbstbeherrschung und Zucht des Herzens ist und die Wege zu vielen
und entgegengesetzten Denkweisen erlaubt -, bis zu jener inneren
Umfänglichkeit und Verwöhnung des Ueberreichthums, welche die
Gefahr ausschliesst, dass der Geist sich etwa selbst in die eignen Wege
verlöre und verliebte und in irgend einem Winkel berauscht sitzen
bliebe, bis zu jenem Ueberschuss an plastischen, ausheilenden,
nachbildenden und wiederherstellenden Kräften, welcher eben das
Zeichen der grossen Gesundheit ist, jener Ueberschuss, der dem freien
Geiste das gefährliche Vorrecht giebt, auf den Versuch hin leben und
sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen: das Meisterschafts-Vorrecht
des freien Geistes! Dazwischen mögen lange Jahre der Genesung liegen,
Jahre voll vielfarbiger schmerzlich-zauberhafter Wandlungen,
beherrscht und am Zügel geführt durch einen zähen Willen zur
Gesundheit, der sich oft schon als Gesundheit zu kleiden und zu
verkleiden wagt. Es giebt einen mittleren Zustand darin, dessen ein
Mensch solchen Schicksals später nicht ohne Rührung eingedenk ist:
ein blasses feines Licht und Sonnenglück ist ihm zu eigen, ein Gefühl
von Vogel-Freiheit, Vogel-Umblick, Vogel-Uebermuth, etwas Drittes,
in dem sich Neugierde und zarte Verachtung gebunden haben. Ein
"freier Geist" - dies kühle Wort thut in jenem Zustande wohl, es wärmt
beinahe. Man lebt, nicht mehr in den Fesseln von Liebe und Hass, ohne
ja, ohne Nein, freiwillig nahe, freiwillig ferne, am liebsten
entschlüpfend, ausweichend, fortflatternd, wieder weg, wieder empor
fliegend; man ist verwöhnt, wie Jeder, der einmal ein ungeheures
Vielerlei unter sich gesehn hat, - und man ward zum Gegenstück Derer,
welche sich um Dinge bekümmern, die sie nichts angehn. In der That,
den freien Geist gehen nunmehr lauter Dinge an - und wie viele Dinge!
- welche ihn nicht mehr bekümmern...
5.

Ein Schritt weiter in der Genesung: und der freie Geist nähert sich
wieder dem Leben, langsam freilich, fast widerspänstig, fast
misstrauisch. Es wird wieder wärmer um ihn, gelber gleichsam; Gefühl
und Mitgefühl bekommen Tiefe, Thauwinde aller Art gehen über ihn
weg. Fast ist ihm zu Muthe, als ob ihm jetzt erst die Augen für das
Nahe aufgiengen. Er ist verwundert und sitzt stille: wo war er doch?
Diese nahen und nächsten Dinge: wie scheinen sie ihm verwandelt!
welchen Flaum und Zauber haben sie inzwischen bekommen! Er blickt
dankbar zurück, - dankbar seiner Wanderschaft, seiner Härte und
Selbstentfremdung, seinen Fernblicken und Vogelflügen in kalte Höhen.
Wie gut, dass er nicht wie ein zärtlicher dumpfer Eckensteher immer
"zu Hause", immer "bei sich" geblieben ist! er war ausser sich: es ist
kein Zweifel. Jetzt erst sieht er sich selbst -, und welche
Ueberraschungen findet er dabei! Welche unerprobten Schauder!
Welches Glück noch in der Müdigkeit, der alten Krankheit, den
Rückfällen des Genesenden! Wie es ihm gefällt, leidend stillzusitzen,
Geduld zu spinnen, in der Sonne zu liegen! Wer versteht sich gleich
ihm auf das Glück im Winter, auf die Sonnenflecke an der Mauer! Es
sind die dankbarsten Thiere von der Welt, auch die bescheidensten,
diese dem Leben wieder halb zugewendeten Genesenden und
Eidechsen: - es giebt solche unter ihnen, die keinen Tag von sich lassen,
ohne ihm ein kleines Loblied an den nachschleppenden Saum zu
hängen. Und ernstlich geredet: es ist eine gründliche Kur gegen allen
Pessimismus (den Krebsschaden alter Idealisten und Lügenbolde, wie
bekannt -) auf die Art dieser freien Geister krank zu werden, eine gute
Weile krank zu bleiben und dann, noch länger, noch länger, gesund, ich
meine "gesünder" zu werden. Es ist Weisheit darin, Lebens-Weisheit,
sich die Gesundheit selbst lange Zeit nur in kleinen Dosen zu
verordnen.
6.
Um jene Zeit mag es endlich geschehn, unter den plötzlichen Lichtern
einer noch ungestümen, noch wechselnden Gesundheit, dass dem freien,
immer freieren Geiste sich das Räthsel jener grossen Loslösung zu
entschleiern beginnt, welches bis
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