Sache
der Arbeiter zu dienen, und nun, gemeinsam mit ihrem Mann, durch
Wort und Schrift für Genossenschaften und Gewerkschaften tätig war.
Ich wußte auch, daß sie der Frauenbewegung fern, ja ihren
Forderungen sogar vielfach feindlich gegenüberstand. Gelesen hatte ich
keines ihrer Bücher, nur mit einer gewissen Scheu ging ich darum zu
ihr. Eine blühend schöne Frau fand ich, mit dem ganzen Reiz starken
geistigen Lebens in den Zügen und einer Güte und Anmut des Wesens,
der meine Steifheit nicht lange standhielt. Durch sie erfuhr ich von der
Macht und Größe der englischen Gewerkschaftsbewegung und fand
den Weg in die Häuser jener Arbeiter, die sich durch die Kraft ihrer
Organisation aus physischer und geistiger Versklavung befreit hatten.
Wie ein Stück verwirklichter Zukunftsstaat kam es mir vor, wenn ich
sie draußen, vor Londons Toren, in ihren Gärten traf oder vor dem
Kamin ihres Wohnzimmers oder am gut besetzten Tisch. Wahrhaftig:
hier hatten die Strahlen der sozialistischen Sonne aus ödem Land neues
Leben hervorgerufen.
In den Versammlungen der Fabier, die ich von da an regelmäßig
besuchte, wurden theoretische und praktische Fragen des Sozialismus
von allen Seiten beleuchtet und erörtert. Jene Scheu, zu sagen, was man
denkt, die die Menschen überall schwach und klein macht, wo
religiöser, sittlicher oder politischer Fanatismus die Wahrheit an sich zu
besitzen vorgibt, schien hier verschwunden, und mir war, als fiele Licht
auf den Weg, den ich zu gehen hatte.
»Es ist nicht wahr, daß die Befreiung der Arbeiterklasse nur ein Werk
der Arbeiterklasse selbst sein kann, -- es ist nicht wahr, daß der
Klassenkampf das Grundelement der sozialistischen Bewegung ist, --
es ist nicht wahr, daß die Entwicklung des Sozialismus mit der
Sicherheit eines Naturgesetzes notwendig zur Expropriation der
Expropriateure führen wird ...« Eine überschlanke Gestalt stand auf der
Rednertribüne, mit schmalem, gelblich blassem Gesicht, in das weiche
blonde Haare wirr hineinfielen. »Es waren und sind die revoltierenden
Söhne der Bourgeoisie selbst -- Lassalle, Marx, Liebknecht, Morris,
Hyndman, Bax -- alle, wie ich, Bourgeois mit Mischung von
Kavaliersblut, die die rote Fahne entfalteten. Der Hunger der Armen
treibt zur Revolte, der Geist allein zur Revolution ...« Wie Hochverrat
an den grundlegenden Dogmen des Sozialismus klang mir, was dieser
Mann hart und scharf in den Saal hinausschleuderte. Aber ein Ton blieb
mir hartnäckig im Ohr und weckte etwas in mir, das stark und stolz war.
In selbstentsagender Askese hatte ich mich, ein schlichter Soldat, als
mein Lebensglück zusammenbrach, in den Dienst der Partei stellen
wollen. Kraft und Jugend kehrten mir wieder: sollte ich nicht fähig sein
und berufen, dem Sozialismus den Urwald erobern zu helfen, den alle
Giftpflanzen des Vorurteils und des Stumpfsinns noch üppig
durchwucherten?
Ich suchte des Redners Bekanntschaft. Es war Bernard Shaw, der
Theaterkritiker der Saturday Review, der Entdecker Ibsens und Richard
Wagners nicht nur für England, sondern für den Sozialismus, der
bissige Spötter, von dessen Witzen die englische Gesellschaft nie recht
wußte, ob sie über sie lachen, oder sich vor ihnen fürchten sollte. Mich
verlangte nach einer Erklärung dessen, was er in lapidaren Sätzen eben
vor mich hingestellt hatte.
»Sie waren draußen in Letshfield?« frug er mich statt aller Antwort.
»Und haben die Bewohner in ihren Heimen gesehen? ... Natürlich auch
bewundert?!« Ich nickte. »Und nicht bemerkt, wie drastisch solch eine
Miniatur-Zufriedenheitsexistenz lehrt, daß der Arbeiter in seiner Masse
nichts mehr verlangt, als ein Bourgeois zu werden!«
»Ist es nicht auch das wünschenswerteste Ziel, ihn zunächst wenigstens
satt zu machen?« warf ich ein.
»Sicherlich, denn Armut ist ein Laster --, wenn nur die satt gewordenen
nicht am raschesten derer vergessen würden, die noch immer hungern.
Im Grunde sind die Arbeiter das konservativste Element im Staat, und
wir Freigelassenen der Bourgeoisie sind dazu da, sie aufzurütteln.«
Der Kreis der Fabier war von nun an derjenige, der mich am meisten
anzog, aber die politischen Ereignisse auf der einen, und jenes Gefühl
der Unfreiheit auf der anderen Seite, das mit der Annahme auch der
weitherzigen Gastfreundschaft untrennbar verbunden ist, rissen mich
wieder nach anderen Richtungen fort. Die Abstimmung über eine an
sich unbedeutende Militärfrage führte zu einer Niederlage der
Regierung und damit zum Rücktritt des Ministeriums. Eine Erregung,
die sich vom Parlament aus mit Windeseile auf alle Straßen fortpflanzte,
die Gesichter der überall in Gruppen Zusammenstehenden höher färbte
und alle Augen blitzen ließ, bemächtigte sich der Londoner. Sie
steigerte sich zur Fieberhitze an jenem Abend in Albert-Hall, wo sich
die Menschenmassen vom Parterre dieses Riesenzirkus bis hoch unter
die Kuppel zusammendrängten und die gestürzten Minister Rosebery
und Harcourt in die vom Atem Tausender und der zitternden Glut des
Julitages lebendigen Luft gegen die neue Regierung leidenschaftliche
Anklagen erhoben. Selbst die Nachmittagstees des londoner Westens
gestalteten sich zu Agitationsversammlungen. Die Leidenschaft des
Hasardspielers schien alle ergriffen zu haben, und gespannt, als gelte es
dem Einsatz der ganzen Existenz, hingen die Blicke an der rollenden
Roulettekugel des Wahlkampfes.
Eines Morgens atmete ich
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