Memoiren einer Sozialistin | Page 8

Lily Braun
wie erlöst aus einem Banne auf, als ich nicht
mehr in dem eleganten Zimmer von Princes Gardens erwachte, wo
dichte gelbseidene Vorhänge mir stets die Sonne vorgetäuscht hatten
und das blitzende Messinggestell meines Betts mich oft selbst unter der
Daunendecke frösteln machte. Hinter weißen Mullgardinen sah ich jetzt
grüne Zweige schaukeln, und in einem Bett aus warm getönten hellem
Holz hatte ich traumlos geschlafen. Es waren Deutsche von Geburt,
Engländer aus freier Wahl, die mich für die letzte Zeit meines londoner
Aufenthaltes zu sich in ihr Künstlerheim geladen hatten. Jedes
Möbelstück, jeder Teppich und jede Vase standen in den schönen
lichten Räumen des Hauses in feiner Harmonie zueinander, nur die
Gemälde an den Wänden schienen sie mißtönig zu zerstören, und in
dem großen Atelier schrieen sie förmlich. Bilder des Elends waren es,
des Hungers und der Verzweiflung, Bilder des Krieges, auf denen von
Wunden grauenvoll Zerrissene die Hände krampfhaft gespreizt oder
wütend geballt gen Himmel streckten. Der Hausherr malte sie und
nichts als sie, -- ein milder, gütiger Mann mit grauem Patriarchenbart

und den Augen eines Jünglings. Wo immer das Leid der Kreatur zum
Ausdruck kam, war sein Herz und sein Interesse, von der
Friedensbewegung an bis zur Tierschutzbewegung. Er gehörte zu den
Menschen, die überall im einzelnen helfen und wirken wollen, wie der
ungelernte Gärtner, der da und dort einem armen Pflänzlein durch
künstliche Nahrung oder durch den stützenden Stab aufhelfen will, aber
bei all seinem aufreibenden Eifer nicht steht, daß der ganze Boden
schlecht ist. Sein weißblondes zartes Frauchen lächelte oft ganz
heimlich, wie eine kleine Mutter zu den Spielen ihres Kindes, die sie
mit der Weisheit der Erwachsenen nicht stören will.
Ihr Haus übte eine magnetische Anziehungskraft auf Alles aus, was
abseits der großen Heerstraße ging. Shaw traf ich hier wieder als
häufigen Gast; Peter Krapotkin gehörte zu den Intimen des Hauses, --
der große Revolutionär, der doch ein Kind war: gut und vertrauensselig
und voll phantastischer Träume wie ein solches. William Stead, dessen
rücksichtsloser Kampf gegen die sittliche Fäulnis der londoner
Gesellschaft ihm einen europäischen Ruf verschafft hatte, begegnete
mir hier zum erstenmal und zog mich in den Bannkreis seiner starken
Persönlichkeit. Seine Augen, deren opalisierende Lichter wie durch
geheimnisvoll darüber gebreitete Schleier schienen, übten eine
faszinierende Wirkung aus, und wenn er von seinem Verkehr mit den
Geistern Abgeschiedener erzählte, wenn er von den Kräften der Seele
sprach, die unerweckt auch in mir schlummern müßten, so bedurfte ich
der ganzen Nüchternheit meines Verstandes, der ganzen Stärke meiner
fanatisch materialistischen Weltanschauung, um mich seinem Einfluß
zu entziehen.
»Ich will mich nicht mit Problemen beschäftigen, die mich von dem
Problem ablenken könnten, dessen Lösung meine einzige Aufgabe ist:
dem des Elends in der Welt ...« antwortete ich ihm eines Tages, als er
mich mit Annie Besant bekannt machen wollte, die sich eben vom
Sozialismus abgewandt hatte und zur begeisterten Verkünderin
theosophischer Ideen geworden war. »Mögen andere heute, wo die Zeit
drängt, es vor sich selbst verantworten, wenn sie ihren Träumen
nachhängen...«

»Sie werden nie mehr träumen?!« Mit einem Blick und einem Lächeln
begleitete Stead seine Frage, die mir das Blut in die Wangen trieben. Er
nahm meine beiden Hände zwischen die seinen -- Hände, die in ihrer
Kraft und ihrer Weiche zum Schützen wie zum Streicheln gleich
geschaffen waren --, und seine Augen bohrten sich in meine Züge.
»Ich liebe Ihre Tapferkeit und Ihre Klugheit, aber was mich Ihre
Freundschaft suchen ließ, das ist Ihr unbewußtes Ich, das sind Ihre
Träume, die Sie vergessen, wenn Sie wachen, von denen mir aber noch
Ihre Augen erzählen, -- das ist die tiefe Sehnsucht, die Ihr Wesen über
sich selbst hinauszieht.«
Ich fuhr an jenem Tage mit ihm hinaus nach Wimbledon, wo sich
zwischen hohen Hecken und alten Bäumen sein kleines, stilles Haus
versteckte. Und im verwilderten Garten unter dem schattenden
Laubdach duftender Linden lag ich in der Hängematte und ließ mir von
ihm die Kissen unter den Kopf schieben.
»Sie sind müde?«
»Sehr!«
»Ihr Leben ist Seelen-Selbstmord.«
Seine Hand glitt sanft über meine Stirn. Viele bunte Schmetterlinge
gaukelten über ein Meer gelber Blumen, und zwei Libellen tanzten über
dem kleinen stillen Teich zärtlich miteinander. Vom Herzen aus zuckte
ein schneidendes Weh mir durch den Körper, die Augen füllten sich
mit Tränen. Was war es nur, das mich überwältigte?!
»Wie Ihre Jugend um ihr Leben weint!« sagte leise der Mann neben
mir. Meine Jugend?! Kaum wußte ich noch, ob ich alt war oder jung.
Ich stand wohl schon lange jenseits jeden Alters!
Schweigsam fuhren wir beide nach London zurück. Ich fühlte die Hand
meines Begleiters auf der meinen -- streichelnd, schützend. Nachts
schluchzte ich verzweifelt in die Kissen, und morgens, als ich mich zur
gewohnten Arbeit am Fenster niedersetzte, schweiften meine Gedanken

weit hinaus über die Baumwipfel -- in den glühenden Sommertag -- in
das Leben. Ich ging umher, mir selbst fremd geworden, mit
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