Memoiren einer Sozialistin | Page 6

Lily Braun
und keiner anderen ...«
»Vielleicht haben Sie recht,« antwortete er leise, »wären nur nicht der
Fesseln so viele, die uns an das andere Leben schmiedeten -- --«
»Wir werden sie beide zerbrechen müssen --«
* * * * *
Im Hause meiner Gastfreunde drehte sich das Interesse fast
ausschließlich um Fragen der Politik. Was für andere Frauen der
Gesellschaft der Flirt, die Kunst, die Toilette, das Theater war:
Reizmittel für ihr Nervensystem, -- das war die Politik für Mrs. Dew.
Fast täglich war ich mit ihr im Parlament; sei es, daß wir den

Kommissionsberatungen des neuen Fabrikgesetzes beiwohnten -- das
Publikum hatte ohne weiteres Zutritt -- oder in den Wandelgängen und
auf der Themseterrasse zwischen Tee und Eis mit den Abgeordneten
debattierten. Seltsam: man nahm uns ernst; vergebens erwartete ich auf
den Zügen der Männer jenes gönnerhaft mitleidige Lächeln, mit dem
meine Landsleute die politisierende Frau zu betrachten pflegten. Eine
gewisse Zurückhaltung mir gegenüber entsprang weniger der Tatsache,
daß ich ein Weib, als daß ich eine Deutsche war, die offenbar nur im
Bilde der »guten Hausfrau« im Bewußtsein der Engländer lebte.
Schon war es gewitterschwül in den feierlich-hohen Hallen des
Parlaments, bei jeder Gelegenheit drohte ein Wetterstrahl die
Regierung zu stürzen, und die von Elektrizität geladene Luft drang bis
hinter die engen Gitterstäbe der Damengalerie. Unruhiger als sonst
raschelten die seidenen Kleider, unterdrückte Erregung durchzitterte
die Flüstergespräche. Man achtete kaum der Redner im Saal, man
erwartete nur die Katastrophe. Da plötzlich klang eine Stimme von
unten empor, rollend wie ferner Donner, -- dann wieder tief und schwer
wie der Ton riesiger alter Kirchenglocken, -- die Damen verstummten,
-- drängten sich enger an das Gitter, -- und aus ihrer bequemen Stellung
auf den weichen Polstersitzen reckten sich die Abgeordneten auf. Ich
hörte nur die Stimme, den Redner sah ich nicht, aber ich empfand ihn
als einen, der zum Herrschen bestimmt war. »Wer ist das?« -- »John
Burns!« -- John Burns -- der Verräter?! So war er in der deutschen
sozialistischen Presse von dem Augenblick an bezeichnet worden, wo
er sich grollend von der englischen Partei losgesagt hatte. Noch am
selben Abend stellte Mr. Dew ihn mir vor. Ich war zuerst enttäuscht:
Alles überragend hatte ich den Träger dieser Stimme mir gedacht, nun
trug er auf dem untersetzten kräftigen Körper nur den Kopf eines
Riesen: Dunkle Haare erhoben sich widerspenstig über der breiten,
scharf durchfurchten Stirn; hinter buschigen Brauen glänzte ein
Augenpaar, das in seiner mächtigen Färbung und fieberhaften
Lebendigkeit der Herkunft aus diesem helläugigen Volke Hohn sprach.
Er schüttelte mir kräftig die Hand. Die seinige war breit und schwer, sie
zeugte von dem Hammer, den sie geführt hatte; -- wie war es möglich
gewesen, daß ihr die rote Fahne entglitt, die sie einst an der Spitze des

Heers der Arbeitslosen durch das entsetzte London getragen hatte? War
dieser Mann nicht der geborene Schöpfer und Führer einer großen,
einigen sozialistischen Partei Englands? Ich unterdrückte keine der
Fragen, die sich mir aufdrängten.
»Ich weiß, daß die Sozialdemokraten, besonders die deutschen, mich
für einen Verräter halten,« sagte er, »aber sie verstehen die Situation
nicht. In Deutschland würde ich nicht anders handeln als Bebel und
Liebknecht, aber hier ...« mit einer raschen Bewegung schob er die
Teetasse beiseite und zeichnete auf die weiße Marmorplatte des Tischs
einen Punkt mit einem großen Kreis rings herum. »Sehen Sie,« fuhr er
fort, »dieser Punkt ist der Sozialismus, um den Kreis herum steht die
deutsche Regierung, Ihr Militär, Ihre Polizei, und diese treiben
naturgemäß alle freidenkenden Elemente dem Mittelpunkt zu, mit dem
sie sich, infolge des äußeren Drucks, fest vereinigen. Bei uns besteht
der Mittelpunkt, aber der Kreis fehlt, und so strömen die Strahlen
dieser sozialistischen Sonne ungehindert nach allen Richtungen aus.«
Ich lächelte ein wenig ungläubig. »Ich werde Ihnen beweisen, was ich
sage,« fügte er rasch hinzu. »Sie kommen morgen mit mir --,« er ließ
mir gar keine Zeit zu Einwendungen, sondern bestimmte Ort und
Stunde für unsere Zusammenkunft.
Von da an trafen wir uns oft, im Parlament wie im Londoner
Grafschaftsrat. Ich sah erstaunt, mit welchem Respekt Mitglieder aller
Parteien diesem Manne begegneten, der noch vor wenigen Jahren im
unterirdischen London Gasleitungen gelegt hatte; aber noch mehr
erstaunte ich über den freudigen Stolz, mit dem er mir städtische
Einrichtungen als »Strahlen der sozialistischen Sonne« erklärte, in
denen ich nichts anderes sehen konnte als bürgerlich-soziale Reformen.
»Der deutsche Marxismus hat Sie blind und taub gemacht,« sagte er
eines Tages ungeduldig, als ich mich für die Kommunalisierung der
Verkehrsmittel durchaus nicht begeistern konnte. »Lassen Sie sich von
den Fabiern in die Schule nehmen.«
»Den Fabiern?!«
»Eine Gesellschaft von 'Salonsozialisten', würde man bei Ihnen in

Deutschland sagen. Tüchtige Leute darunter ...«
Mit einem ihrer Begründer und Leiter, Sydney Webb, machte er mich
im Teezimmer des Grafschaftsrats bekannt. Ich wußte von seiner Frau,
die als junges Ding ihr reiches Elternhaus verlassen hatte, um der
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 191
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.