Und in die Häuser
Londons waren wir geladen, die, wie Menschen von alter Kultur, nach
außen die gleichförmige, oft langweilig wirkende Maske guter
Erziehung tragen und erst dem Gast, dem sich die Pforten öffnen, den
ganzen inneren Reichtum individuellen Lebens zeigen. Berlin und die
Berliner fielen mir dabei ein, wo Fassaden und Kleider, um Originalität
vorzutäuschen, einander an Buntheit zu übertreffen suchen, während im
Inneren Tapeziergeschmack und Konvention uneingeschränkt
herrschen.
In Wohltätigkeits- und Bildungsanstalten aller Art wurden wir
eingeführt, und wie in der Frauenbewegung, so imponierte mir hier die
Einheitlichkeit ihrer Organisation, deren gewaltige Räderwerke so
selbstverständlich ineinander griffen wie die jener Dampfturbinen, bei
deren Anblick wir nicht wissen, ob wir die praktische Kunst ihrer
Schöpfer oder die fremdartig-neue Schönheit ihres Baus mehr
bewundern sollen.
Der Kongreß selbst war eine Parade, wie fast alle Kongresse. Die
Reden, die gehalten, die Berichte, die gegeben wurden, waren den
Eingeweihten ihrem Inhalt nach aus Büchern und Broschüren bekannt.
Der Austausch von Meinungen, der das wichtigste gewesen wäre,
wurde an zweite Stelle gerückt, er hätte die Ordnung und den Glanz der
Heerschau am Ende trüben können. So wäre als Gewinn allein die
Anknüpfung persönlicher Beziehungen übrig geblieben, aber auch er
war bei näherem Zusehen für mich nur gering: diese Frauen hatten mir
nichts Neues zu sagen. Ihr A und O, das Frauenstimmrecht, war für
mich in dem Augenblick erledigt gewesen, als ich die
Selbstverständlichkeit seiner Forderung erkannt hatte.
Bei einer internen Sitzung der Delegationen wurde ich zur Präsidentin
für Frauenstimmrecht in Deutschland gewählt. Meine ablehnende
Haltung wurde unter allgemeinem Erstaunen als eine Aufgabe des
Prinzips betrachtet.
»Sie alle haben ihre ganze Kraft auf die Lösung dieser einen Frage
konzentriert,« sagte ich in dem Versuch, mich verständlich zu machen,
»ich bewundere Sie, aber ich kann Ihnen nicht folgen. Das
Frauenstimmrecht ist heute für mich nicht mehr das Ziel, für das ich
mein Leben einsetze, es ist nur ein Ziel, nur eine Etappe ...«
Man verstand mich nicht, von irgend einer Seite fiel sogar das scharfe
Wort: »... unbrauchbar für praktische Arbeit.«
Gleich nach der Schlußsitzung des Kongresses wechselte ich mein
Domizil. Freunde von Stratford -- ein liberaler Parlamentarier und seine
schöne elegante Frau -- hatten mich in ihr Haus am Hydepark
eingeladen. Alles trug dort den Anstrich ausgesuchtester Vornehmheit:
vom Zeremoniell der Lebensweise, dem deutschen Hauslehrer und der
französischen Gouvernante bis zu dem würdevollen, glattrasierten
Bedienten und dem niedlichen Kammermädchen. Hausherr und
Hausfrau verstießen mit keiner Miene und keiner Bewegung gegen die
Regeln der guten Gesellschaft, und doch wurde ich den Eindruck nicht
los, der uns gegenüber guten Kopien großer Meisterwerke oft befällt:
wir erstaunen über die Technik und vermissen um so schmerzhafter den
Geist. Daß Stratford sich hier heimisch fühlte, mit allen Fibern die
parfümierte Luft dieser von tausend Nichtigkeiten überladenen Salons
einatmete, machte ihn mir noch fremder. Und als ich ihn in der
Ethischen Gesellschaft reden hörte inmitten einer Korona von lauter
typischen Vertretern der Geldaristokratie, denen seine Sittenpredigten
dieselbe angenehme Emotion boten wie die Moral der biblischen
Geschichten den Frommen in der Kirche, da mußte ich mir seine Briefe,
seine Schriften ins Gedächtnis rufen, um noch Georgs Freund in ihm zu
erkennen.
Er ging den Weg, den ich nach dem Wunsche meiner Familie gehen
sollte, -- wie würde ich jemals imstande dazu sein?!
»Sie sind sehr ungerecht,« sagte er eines Tages, als ich ihm in meiner
heftigen Art, die der Unruhe meines eigenen Innern entsprang, über
seine Tätigkeit als »Modeprediger« Vorwürfe machte. »Sie kennen
mich nur von der einen Seite.« Noch am selben Abend sollte ich die
andere kennen lernen.
An der Ecke von zwei engen Straßen, beim Scheine einer trübe
flackernden Laterne sprach er über die Ethik des Sozialismus. Zuerst
blieben nur ein paar neugierige Bummler stehen, aber je stärker seine
Stimme von den Mauern widerhallte, desto mehr Menschen sammelten
sich um ihn. Müde, zerlumpte Gestalten krochen wie Nachtgespenster
aus den Kellern hervor, Hoftüren öffneten sich, und umwogt von einer
Wolke ekler Gerüche erschienen Frauen mit zerwühlten Zügen,
halbwüchsige Mädchen, deren freches Grinsen allmählich zuckendem
Schluchzen wich. Mit wüstem Geschrei stießen sich trunkene Burschen
aus der nächsten Kneipe heraus, und nach und nach entzündeten sich
Lichter des Verstehens in ihren eben noch blöd glotzenden Augen. Die
Straße wurde schwarz vor Menschen. Stratford sprach mit steigender
Begeisterung. Um seinen roten Bart tanzten die Lichter der Laternen,
seine Augen strahlten vom eigenen Feuer. Ich hörte kaum, was er sagte,
ich sah nur die Wirkung seiner Worte. Aus den vertiertesten Gesichtern
brach ein Schein von Menschentum hervor, ein froher Zug von
Hoffnung verwischte tiefe Kummerfalten.
Wir gingen schweigsam durch die Nacht nach Hause. Vor der Türe
reichte ich ihm die Hand.
»Ich würde Sie nach dem, was ich eben erlebte, um Verzeihung bitten,
meiner Vorwürfe wegen, wenn ich nicht grade dadurch wüßte, daß Sie
doppelt schuldig sind. Ein Mann wie Sie gehört der Sache des
Sozialismus,
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