Memoiren einer Sozialistin | Page 7

Lily Braun
der meine Steifheit nicht lange standhielt. Durch sie erfuhr ich von der Macht und Gr??e der englischen Gewerkschaftsbewegung und fand den Weg in die H?user jener Arbeiter, die sich durch die Kraft ihrer Organisation aus physischer und geistiger Versklavung befreit hatten. Wie ein St��ck verwirklichter Zukunftsstaat kam es mir vor, wenn ich sie drau?en, vor Londons Toren, in ihren G?rten traf oder vor dem Kamin ihres Wohnzimmers oder am gut besetzten Tisch. Wahrhaftig: hier hatten die Strahlen der sozialistischen Sonne aus ?dem Land neues Leben hervorgerufen.
In den Versammlungen der Fabier, die ich von da an regelm??ig besuchte, wurden theoretische und praktische Fragen des Sozialismus von allen Seiten beleuchtet und er?rtert. Jene Scheu, zu sagen, was man denkt, die die Menschen ��berall schwach und klein macht, wo religi?ser, sittlicher oder politischer Fanatismus die Wahrheit an sich zu besitzen vorgibt, schien hier verschwunden, und mir war, als fiele Licht auf den Weg, den ich zu gehen hatte.
?Es ist nicht wahr, da? die Befreiung der Arbeiterklasse nur ein Werk der Arbeiterklasse selbst sein kann, -- es ist nicht wahr, da? der Klassenkampf das Grundelement der sozialistischen Bewegung ist, -- es ist nicht wahr, da? die Entwicklung des Sozialismus mit der Sicherheit eines Naturgesetzes notwendig zur Expropriation der Expropriateure f��hren wird ...? Eine ��berschlanke Gestalt stand auf der Rednertrib��ne, mit schmalem, gelblich blassem Gesicht, in das weiche blonde Haare wirr hineinfielen. ?Es waren und sind die revoltierenden S?hne der Bourgeoisie selbst -- Lassalle, Marx, Liebknecht, Morris, Hyndman, Bax -- alle, wie ich, Bourgeois mit Mischung von Kavaliersblut, die die rote Fahne entfalteten. Der Hunger der Armen treibt zur Revolte, der Geist allein zur Revolution ...? Wie Hochverrat an den grundlegenden Dogmen des Sozialismus klang mir, was dieser Mann hart und scharf in den Saal hinausschleuderte. Aber ein Ton blieb mir hartn?ckig im Ohr und weckte etwas in mir, das stark und stolz war. In selbstentsagender Askese hatte ich mich, ein schlichter Soldat, als mein Lebensgl��ck zusammenbrach, in den Dienst der Partei stellen wollen. Kraft und Jugend kehrten mir wieder: sollte ich nicht f?hig sein und berufen, dem Sozialismus den Urwald erobern zu helfen, den alle Giftpflanzen des Vorurteils und des Stumpfsinns noch ��ppig durchwucherten?
Ich suchte des Redners Bekanntschaft. Es war Bernard Shaw, der Theaterkritiker der Saturday Review, der Entdecker Ibsens und Richard Wagners nicht nur f��r England, sondern f��r den Sozialismus, der bissige Sp?tter, von dessen Witzen die englische Gesellschaft nie recht wu?te, ob sie ��ber sie lachen, oder sich vor ihnen f��rchten sollte. Mich verlangte nach einer Erkl?rung dessen, was er in lapidaren S?tzen eben vor mich hingestellt hatte.
?Sie waren drau?en in Letshfield?? frug er mich statt aller Antwort. ?Und haben die Bewohner in ihren Heimen gesehen? ... Nat��rlich auch bewundert?!? Ich nickte. ?Und nicht bemerkt, wie drastisch solch eine Miniatur-Zufriedenheitsexistenz lehrt, da? der Arbeiter in seiner Masse nichts mehr verlangt, als ein Bourgeois zu werden!?
?Ist es nicht auch das w��nschenswerteste Ziel, ihn zun?chst wenigstens satt zu machen?? warf ich ein.
?Sicherlich, denn Armut ist ein Laster --, wenn nur die satt gewordenen nicht am raschesten derer vergessen w��rden, die noch immer hungern. Im Grunde sind die Arbeiter das konservativste Element im Staat, und wir Freigelassenen der Bourgeoisie sind dazu da, sie aufzur��tteln.?
Der Kreis der Fabier war von nun an derjenige, der mich am meisten anzog, aber die politischen Ereignisse auf der einen, und jenes Gef��hl der Unfreiheit auf der anderen Seite, das mit der Annahme auch der weitherzigen Gastfreundschaft untrennbar verbunden ist, rissen mich wieder nach anderen Richtungen fort. Die Abstimmung ��ber eine an sich unbedeutende Milit?rfrage f��hrte zu einer Niederlage der Regierung und damit zum R��cktritt des Ministeriums. Eine Erregung, die sich vom Parlament aus mit Windeseile auf alle Stra?en fortpflanzte, die Gesichter der ��berall in Gruppen Zusammenstehenden h?her f?rbte und alle Augen blitzen lie?, bem?chtigte sich der Londoner. Sie steigerte sich zur Fieberhitze an jenem Abend in Albert-Hall, wo sich die Menschenmassen vom Parterre dieses Riesenzirkus bis hoch unter die Kuppel zusammendr?ngten und die gest��rzten Minister Rosebery und Harcourt in die vom Atem Tausender und der zitternden Glut des Julitages lebendigen Luft gegen die neue Regierung leidenschaftliche Anklagen erhoben. Selbst die Nachmittagstees des londoner Westens gestalteten sich zu Agitationsversammlungen. Die Leidenschaft des Hasardspielers schien alle ergriffen zu haben, und gespannt, als gelte es dem Einsatz der ganzen Existenz, hingen die Blicke an der rollenden Roulettekugel des Wahlkampfes.
Eines Morgens atmete ich wie erl?st aus einem Banne auf, als ich nicht mehr in dem eleganten Zimmer von Princes Gardens erwachte, wo dichte gelbseidene Vorh?nge mir stets die Sonne vorget?uscht hatten und das blitzende Messinggestell meines Betts mich oft selbst unter der Daunendecke fr?steln machte. Hinter wei?en Mullgardinen sah ich jetzt gr��ne Zweige schaukeln, und in einem Bett aus warm get?nten hellem Holz hatte ich traumlos geschlafen. Es waren Deutsche von Geburt, Engl?nder aus freier Wahl, die mich f��r die letzte Zeit meines londoner
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