Memoiren einer Sozialistin | Page 6

Lily Braun
ihr Nervensystem, -- das war die Politik f��r Mrs. Dew. Fast t?glich war ich mit ihr im Parlament; sei es, da? wir den Kommissionsberatungen des neuen Fabrikgesetzes beiwohnten -- das Publikum hatte ohne weiteres Zutritt -- oder in den Wandelg?ngen und auf der Themseterrasse zwischen Tee und Eis mit den Abgeordneten debattierten. Seltsam: man nahm uns ernst; vergebens erwartete ich auf den Z��gen der M?nner jenes g?nnerhaft mitleidige L?cheln, mit dem meine Landsleute die politisierende Frau zu betrachten pflegten. Eine gewisse Zur��ckhaltung mir gegen��ber entsprang weniger der Tatsache, da? ich ein Weib, als da? ich eine Deutsche war, die offenbar nur im Bilde der ?guten Hausfrau? im Bewu?tsein der Engl?nder lebte.
Schon war es gewitterschw��l in den feierlich-hohen Hallen des Parlaments, bei jeder Gelegenheit drohte ein Wetterstrahl die Regierung zu st��rzen, und die von Elektrizit?t geladene Luft drang bis hinter die engen Gitterst?be der Damengalerie. Unruhiger als sonst raschelten die seidenen Kleider, unterdr��ckte Erregung durchzitterte die Fl��stergespr?che. Man achtete kaum der Redner im Saal, man erwartete nur die Katastrophe. Da pl?tzlich klang eine Stimme von unten empor, rollend wie ferner Donner, -- dann wieder tief und schwer wie der Ton riesiger alter Kirchenglocken, -- die Damen verstummten, -- dr?ngten sich enger an das Gitter, -- und aus ihrer bequemen Stellung auf den weichen Polstersitzen reckten sich die Abgeordneten auf. Ich h?rte nur die Stimme, den Redner sah ich nicht, aber ich empfand ihn als einen, der zum Herrschen bestimmt war. ?Wer ist das?? -- ?John Burns!? -- John Burns -- der Verr?ter?! So war er in der deutschen sozialistischen Presse von dem Augenblick an bezeichnet worden, wo er sich grollend von der englischen Partei losgesagt hatte. Noch am selben Abend stellte Mr. Dew ihn mir vor. Ich war zuerst entt?uscht: Alles ��berragend hatte ich den Tr?ger dieser Stimme mir gedacht, nun trug er auf dem untersetzten kr?ftigen K?rper nur den Kopf eines Riesen: Dunkle Haare erhoben sich widerspenstig ��ber der breiten, scharf durchfurchten Stirn; hinter buschigen Brauen gl?nzte ein Augenpaar, das in seiner m?chtigen F?rbung und fieberhaften Lebendigkeit der Herkunft aus diesem hell?ugigen Volke Hohn sprach.
Er sch��ttelte mir kr?ftig die Hand. Die seinige war breit und schwer, sie zeugte von dem Hammer, den sie gef��hrt hatte; -- wie war es m?glich gewesen, da? ihr die rote Fahne entglitt, die sie einst an der Spitze des Heers der Arbeitslosen durch das entsetzte London getragen hatte? War dieser Mann nicht der geborene Sch?pfer und F��hrer einer gro?en, einigen sozialistischen Partei Englands? Ich unterdr��ckte keine der Fragen, die sich mir aufdr?ngten.
?Ich wei?, da? die Sozialdemokraten, besonders die deutschen, mich f��r einen Verr?ter halten,? sagte er, ?aber sie verstehen die Situation nicht. In Deutschland w��rde ich nicht anders handeln als Bebel und Liebknecht, aber hier ...? mit einer raschen Bewegung schob er die Teetasse beiseite und zeichnete auf die wei?e Marmorplatte des Tischs einen Punkt mit einem gro?en Kreis rings herum. ?Sehen Sie,? fuhr er fort, ?dieser Punkt ist der Sozialismus, um den Kreis herum steht die deutsche Regierung, Ihr Milit?r, Ihre Polizei, und diese treiben naturgem?? alle freidenkenden Elemente dem Mittelpunkt zu, mit dem sie sich, infolge des ?u?eren Drucks, fest vereinigen. Bei uns besteht der Mittelpunkt, aber der Kreis fehlt, und so str?men die Strahlen dieser sozialistischen Sonne ungehindert nach allen Richtungen aus.? Ich l?chelte ein wenig ungl?ubig. ?Ich werde Ihnen beweisen, was ich sage,? f��gte er rasch hinzu. ?Sie kommen morgen mit mir --,? er lie? mir gar keine Zeit zu Einwendungen, sondern bestimmte Ort und Stunde f��r unsere Zusammenkunft.
Von da an trafen wir uns oft, im Parlament wie im Londoner Grafschaftsrat. Ich sah erstaunt, mit welchem Respekt Mitglieder aller Parteien diesem Manne begegneten, der noch vor wenigen Jahren im unterirdischen London Gasleitungen gelegt hatte; aber noch mehr erstaunte ich ��ber den freudigen Stolz, mit dem er mir st?dtische Einrichtungen als ?Strahlen der sozialistischen Sonne? erkl?rte, in denen ich nichts anderes sehen konnte als b��rgerlich-soziale Reformen.
?Der deutsche Marxismus hat Sie blind und taub gemacht,? sagte er eines Tages ungeduldig, als ich mich f��r die Kommunalisierung der Verkehrsmittel durchaus nicht begeistern konnte. ?Lassen Sie sich von den Fabiern in die Schule nehmen.?
?Den Fabiern?!?
?Eine Gesellschaft von 'Salonsozialisten', w��rde man bei Ihnen in Deutschland sagen. T��chtige Leute darunter ...?
Mit einem ihrer Begr��nder und Leiter, Sydney Webb, machte er mich im Teezimmer des Grafschaftsrats bekannt. Ich wu?te von seiner Frau, die als junges Ding ihr reiches Elternhaus verlassen hatte, um der Sache der Arbeiter zu dienen, und nun, gemeinsam mit ihrem Mann, durch Wort und Schrift f��r Genossenschaften und Gewerkschaften t?tig war. Ich wu?te auch, da? sie der Frauenbewegung fern, ja ihren Forderungen sogar vielfach feindlich gegen��berstand. Gelesen hatte ich keines ihrer B��cher, nur mit einer gewissen Scheu ging ich darum zu ihr. Eine bl��hend sch?ne Frau fand ich, mit dem ganzen Reiz starken geistigen Lebens in den Z��gen und einer G��te und Anmut des Wesens,
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