Mein erster Aufenthalt in Marokko und Reise südlich vom Atlas durch die Oasen Draa und Tafilet | Page 6

Gerhard Rohlfs
lebt--auf diese Art reisend, durfte ich hoffen, genau die Sitten
und Gebräuche der Eingeborenen kennen zu lernen. Vor mir war keine
Scheu, keine Zurückhaltung, Jeder gab sich, wie er war, ja, ich kann
sagen, auf dem Lande beeiferte man sich, mich mit Allem, was mir neu
und unbekannt war, bekannt zu machen. Freilich war ich auch geplagt
dafür vom Morgen bis zum Abend. Ich hatte, um mich besser der
zudringlichen Fragen, warum ich gekommen, weshalb ich übergetreten,
warum ich nicht heirathe und mich sesshaft mache etc. etc., erwehren
zu können, ausgesagt, ich sei Arzt; aber von dem Augenblick war keine
Ruhe mehr. Die mit wirklichen Krankheiten Behafteten sowohl, wie
die vollkommen Gesunden, Alles wollte Mittel und Rathschläge vom
ehemaligen christlichen Arzt haben. Freilich schöpfte ich auch hieraus
manchen Nutzen, denn ebenso gut wie in Europa der Arzt manchmal
mehr erfährt als der Beichtvater, haben in jeder Beziehung die
Marokkaner Vertrauen zu dem Arzte, wenn sie nur einmal den
geringsten Beweis seiner Heilkraft erprobt haben.
Das Zelt, welches wir für die Nacht bewohnten, war dasselbe, worin
die ganze Familie unseres Gastgebers zubrachte. Im Allgemeinen sind
die Zelte der Marokkaner etwas kleiner als die der Algeriner, aber

grösser als die der Bewohner von Tripolitanien und Cyrenaika. Dies
gilt indess nur für die Theile in Marokko, die unter der Hand des
Sultans oder seiner Blutsauger stehen, in den Gebieten, welche eine
unabhängige Herrschaft haben, besitzen die Stämme ebenso grosse,
wenn nicht noch grössere Zelte als die der Triben in Algerien. Man
kann mit Recht von dem grossen Hause oder grossen Zelte auf den
Wohlstand Einzelner, sowie auch ganzer Triben schliessen, und wie bei
uns ursprünglich die Redensart: "er ist aus einem grossen Hause", "er
macht ein grosses Haus", nicht nur bildlich sondern in Wirklichkeit zu
nehmen ist, so auch in Marokko; "_min dar kebira_", oder "_cheima
kebira_" heisst vom grossen Hause, vom grossen Zelte und bedeutet,
dass der, auf den es Bezug hat, wirklich ein grosses Haus oder grosses
Zelt, mithin Reichthum und Macht besitzt.
Man kann wohl denken, dass das Zelt, welches wir bewohnten, nicht zu
den grossen gehörte; in der einen Hälfte schliefen Mann und Frau, in
der anderen wir und noch zwei männliche halberwachsene Kinder. Die
Scheidewand war durch die im Zelte üblichen Möbel gebildet: hohe
Säcke mit Korn, darauf ein Sattel, Ackergeräth, zwei Flinten, ein
grosser Schlauch mit Wasser, ein anderer, worin gebuttert wird und der
nur halb voll zu sein schien[6], Töpfe und leere hölzerne Schüsseln
vervollständigten die trennende Barrikade. Bei Vornehmen pflegt aber
aus Zeug eine Scheidewand gezogen zu sein. Ein kleines Füllen,
welches an unserer Seite angebunden war, bekam mehrere Male Nachts
Gesellschaft, Ziegen, Schafe, wahrscheinlich Besitz des Eigenthümers,
kamen aus der Mitte des Duars ins Zelt, um einen kurzen Besuch zu
machen, wobei sie ungenirt über uns wegkletterten. Glücklicherweise
sind die Hunde des Zeltes, in das man einmal aufgenommen ist, nicht
mehr zu fürchten, es ist, als ob sie den Gastfreund ihres Herrn
respectiren wollten. Aber wehe Dem, der ohne Knittel Nachts einen
Duar verlassen oder in denselben einzudringen versuchen wollte, er
würde von der ganzen Meute der stets halbverhungerten Bestien
angefallen werden. Und dennoch kommt mitunter Diebstahl vor, man
lockt durch faules oder frisches Fleisch die hungerigen Thiere fort, und
mit Leichtigkeit kann dann gestohlen werden, da die Eingeborenen sich
Nachts nur auf die Wachsamkeit ihrer Hunde verlassen.
[Fußnote 6: Man giesst mehrere Morgen nach einander die frisch
gemolkene Milch in einen Ziegenschlauch, und später wird durch

Schütteln die Butter erzeugt.]
Die Heerden, d.h. Rinder, Schafe und Ziegen werden stets für die Nacht
in den inneren Kreis getrieben und Morgens und Abends gemolken.
Besitzt ein Einzelner viele Schafe, so werden sie in zwei Reihen mit
den Köpfen nach vorn gerichtet, durcheinander gebunden, um so
gemolken zu werden. Sobald ein Schaf gemolken ist, wird es
freigelassen. Unter der Zeit führen die Widder der verschiedenen
Heerden furchtbare Kämpfe auf und meistens lassen die Besitzer sie
gewähren. Ein jeder der Kämpfer geht ungefähr zehn Schritt zurück,
und sodann stürzen beide mit gesenktem Kopfe auf einander, dass die
Köpfe zu zerspringen drohen. Sie bohren nach jedem Stosse mit dem
Kopfe nach vorwärts, sie fallen auf die Knie, endlich räumt der eine das
Feld, während der andere laut schnuppernd zu seiner Heerde eilt. Das
marokkanische Schaf ist nicht das fettschwänzige. Die Hörner des
Schafes sind spiralförmig gebogen, der Kopf ist vorn gewölbt, die
Wolle lang und fein, durch Veredlung dieses Schafes ist das spanische
Merino entstanden. Für Veredlung der Race der Schafe wird natürlich
in Marokko gar nichts gethan, im Gegentheil wundert man sich, dass
sie bei so ungünstiger Behandlungsweise noch so ausgezeichnet
gedeihen. Hemsö schätzt die Zahl der Schafe auf vierzig bis
fünfundvierzig Millionen. Wo Schafe sind, ist gleichzeitig auch
Ziegenzucht und verhältnissmässig gedeihen diese besser, weil sie
weniger Wartung bedürfen. Vorzugsweise in den gebirgigen Theilen
Marokko's zieht man dieselben,
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