Mein Weg als Deutscher und Jude | Page 4

Jakob Wasserman
des Lebens, auf das individuelle Sicherheitsgefühl,
innerhalb dessen sich das Tun und Lassen des einzelnen Menschen
reguliert. Sind diese beiden Faktoren einmal gegeben und zugestanden,
so wird von ungleich höherer Wichtigkeit für ihn die Frage, wie er sich
zur Allgemeinheit verhält und wie die Allgemeinheit zu ihm. Daraus
erwächst ihm die Erkenntnis seiner Lebensaufgabe und, je nach der
Entscheidung, die Kraft zu ihrer Erfüllung. An diesem Punkt begann
denn auch mein Leiden.

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Der jüdische Gott war Schemen für mich, sowohl in seiner
alttestamentarischen Gestalt, unversöhnlicher Zürner und Züchtiger, als
auch in der opportunistisch abgeklärten der modernen Synagoge.
Erschreckend sein Bild in den Köpfen der Strenggläubigen,
nichtssagend in den Andeutungen der Halbrenegaten und
Verlegenheitsbekenner.
Wenn meine kindlich-philosophischen Spekulationen den Gottesbegriff
zu fassen versuchten, einsames Denken und später Gespräche mit
einem Freund, entstand ein pantheistisches Wesen ohne Gesicht, ohne
Charakter, ohne Tiefe, Resultat von Zeitphrasen, beschworen allein
durch das Verlangen nach einer tragenden Idee. In dem Maß, wie diese
Idee sich als unbefriedigend erwies, sei es durch ihre Mittelmäßigkeit,
sei es durch ihre geahnte Verbrauchtheit, geriet ich in einen nicht
minder billigen und flüssigen Atheismus, der der Epoche noch gemäßer
war, dieser Zeit heilloser Verflachung und Verdünnung, die mit
verstandener wie mit mißverstandener Wissenschaft Idolatrie trieb und
ihre ganze Gedankensphäre durch Bildung verfälschte.
Es war keine leitende Hand für mich da, kein Führer, kein Lehrer. Ich
verlor mich in mannigfacher Hinsicht, auch indem ich nach Halt und
Gewicht dort suchte, wo der wahrhafte Mensch ihrer entraten kann. Ich
hatte mich in einer sowohl entseelten wie auch entsinnlichten Ordnung
zurechtzufinden. Ein derartiger Zustand der Welt bedingt entweder die
Zweckhaftigkeit bis in den kalten Rausch der Hirne hinein, oder die
Phantasie gerät in überschwellende Bewegung, und das Gemüt verliert
den Mittelpunkt. Wäre ich nicht als fragender Mensch in sehr frühen
Jahren nachhaltig eingeschüchtert worden, so hätte ich Brücken und
Übergänge finden können. Konventionen wären wichtig gewesen,
leichte und respektierte Formen. Die Mutter war zu bald aus dem Kreis
geschwunden, den Vater beraubten Tagesplage und Existenzangst
immer mehr des Aufblicks. Er ertrug kaum die auf ihn gerichteten
Augen seiner Kinder, denn der Umstand, daß die unablässige Plage ihm,
ihm allein, wie er wähnte, keinen Erfolg brachte, erfüllte ihn mit Scham,

und er sah immer aus wie vom bösen Gewissen gequält. Es war uns
geradezu verboten zu fragen, und Übertretung wurde zuweilen streng
geahndet. Daher auch wuchs inneres Unkraut ohne Schranke bei mir.
Ich erinnere mich, daß ich in krankhafter Weise an Gespensterfurcht litt,
an Menschenfurcht, an Dingfurcht, an Traumfurcht, daß in allem, was
mich umgab, eine dunkle Bezauberungsmacht wirkte, stets unheilvoll,
stets dem Verhängnis zugekehrt, stets darin bestärkt. Ich war oft in
einem alten Hause Gast bei einem alten Ehepaare; der Mann war ein
Gelehrter; im Zimmer stand ein Bücherschrank, hinter dessen Glastüre
die Werke Spinozas in zahlreichen Ausgaben eigentümliche
Verlockung auf mich ausübten. Als ich eines Tages die Frau bat, mir
einen Band zu geben, sagte sie mit sibyllenhafter Düsterkeit, wer diese
Bücher lese, werde wahnsinnig. Lange noch behielt der Name Spinoza
in meinem Gedächtnis den Klang und Sinn dieser Worte. So ähnlich
war es auch mit allem Frohen, Spielmäßigen, Festlichen, das zu mir
wollte, zu dem ich wollte. Es wurde abgedrängt, verdächtigt, verfinstert.
Lust durfte nicht sein.
Wir hatten in der Zeit nach dem Tode der Mutter eine treue Magd, die
mich gern hatte. Des Abends kauerte sie gewöhnlich vor der Herdstelle
und erzählte uns Geschichten. Ich entsinne mich, daß sie einmal, als ich
ihr besonders ergriffen gelauscht hatte, mich in den Arm nahm und
sagte: »Aus dir könnt' ein guter Christ werden, du hast ein christliches
Herz!« Ich entsinne mich auch, daß mir dieses Wort Schrecken erregte.
Erstens, weil es eine stumme Verurteilung des Judeseins enthielt und
damit Nahrung für bereits vorhandene Grübeleien wurde, zweitens,
weil der Begriff Christ damals noch ein unheimlicher für mich war,
halb atavistisch, halb lebensbang Brennpunkt feindlicher Elemente.
In demselben Gefühl befangen ging ich an Kirchen vorbei, an Bildern
des Gekreuzigten, an Kirchhöfen und christlichen Priestern.
Uneingestandenen Anziehungen strebten ungewußte Bluterfahrungen
entgegen. Dazu kam das erhorchte Wort eines Erwachsenen, Wort der
Klage, der Kritik, der Verfemung, Ausdruck wiederkehrender typischer
Erlebnisse, warnend und signalgebend in Redensarten wie im täglichen
Geschehen. Von der andern Seite wieder genügte ein prüfender Blick,
ein Achselzucken, ein geringschätziges Lächeln, abwartende Geste und

Haltung sogar, um Vorsicht zu gebieten und an Unüberbrückbares zu
mahnen.
Worin aber das Unüberbrückbare bestand, konnte ich nicht ergründen.
Auch als ich später das Wesentliche daran erfaßte, wies ich es für
meine Person fürs erste zurück. In der Kindheit waren ich und meine
Geschwister so verwirkt in das Alltagsleben der christlichen
Handwerker- und Kleinbürgerwelt, daß wir dort unsere Gespielen
hatten, unsere Gönner, Zuflucht in Stunden der Verlassenheit; in
Wohnungen der Goldschläger, der Schreiner, der Schuster, der Bäcker
gingen wir aus und ein, am Christfestabend durften wir zur Bescherung
kommen und wurden mitbeschenkt.
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