Mein Weg als Deutscher und Jude | Page 5

Jakob Wasserman
Aber Wachsamkeit und Fremdheit
blieben. Ich war Gast, und sie feierten Feste, an denen ich keinen Teil
hatte.
Nun war aber das Bestreben meiner Natur gerade darauf gerichtet, nicht
Gast zu sein, nicht als Gast betrachtet zu werden. Als gerufener nicht,
als aus Mitleid und Gutmütigkeit geduldeter noch weniger, als einer,
der aufgenommen wird, weil man seine Art und Herkunft zu ignorieren
sich entschließt, erst recht nicht. Angeboren war mir das Verlangen, in
einer gewissen Fülle des mich umgebenden Menschlichen aufzugehen.
Da aber dies Verlangen nicht nur nicht gestillt, sondern mit
zunehmenden Jahren der Riß immer klaffender wurde zwischen meiner
ungestümen Forderung und ihrer Gewährung, so hätte ich mich
verlieren, schließlich mich selbst aufgeben müssen, wenn nicht zwei
Phänomene rettend in mein Leben getreten wären: die Landschaft und
das Wort.

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Erstickend in ihrer Engigkeit und Öde die gartenlose Stadt, Stadt des
Rußes, der tausend Schlöte, des Maschinen- und Hämmergestampfes,
der Bierwirtschaften, der verbissenen Betriebs- und Erwerbsgier, des
Dichtbeieinander kleiner und kleinlicher Leute, der Luft der Armut und
Lieblosigkeit im väterlichen Haus.

Im Umkreis dürre Sandebene, schmutzige Fabrikwässer, der trübe,
träge Fluß, der geradlinige Kanal, schüttere Wälder, triste Dörfer,
häßliche Steinbrüche, Staub, Lehm, Ginster.
Eine Wegstunde nach Osten: Nürnberg, Denkmal großer Geschichte.
Mit uralten Häusern, Höfen, Gassen, Domen, Brücken, Brunnen und
Mauern, für mich dennoch nie Kulisse oder Gepränge, oder leerer,
romantischer Schauplatz, sondern durch vielfache Beziehung in das
persönliche Schicksal verflochten, in der Kindheit schon und später
gewichtiger noch.
Wenige Bahnfahrtstunden nach Süden: das hügelige Franken, Tal der
Altmühl, wo ich in Gunzenhausen bei Ansbach alle Ferien bei der
Schwester meiner Mutter verbringen durfte, alle Sommerwochen des
Jahres, oft auch herbst- und winterliche. Die Landschaft von zarter
Linienführung, mit Wäldern, die gehegtes inneres Bild nicht so
beschämten wie jene anderen; Blumengärten, Obstgärten, Weiher,
verlassene Schlösser, umsponnene Ruinen, dörfliche Kirmessen,
einfache Menschen. Es ergab sich freie Wechselbeziehung zu Tier und
Pflanze; Wasser, Gras und Baum wurden mir wesenhaft vertraut; und
so der Bauer, der Händler, der Wirt, der Landstreicher, der Jäger, der
Förster, der Amtmann, der Türmer, der Soldat. Hier sah ich sie in
reinen Verhältnissen zu ihrer Welt, die auch die meine war, wenigstens
nie mich ausstieß. Ich konnte ein Entgegenkommen wagen, weil das
organisch Gestimmte und Gestufte arglos macht. Ich lebte
gewissermaßen in zwei abgetrennten Kontinenten, mit der Gabe, im
lichteren zu vergessen, was mich der finstere hatte erfahren lassen. Dort
sozial angeschmiedet, sozial erinnert, an die Kaste gepreßt, Parteiung
erkennend, Unbill wissend, im Häßlichen verwoben oder in Altes,
Uraltes, Ahnenhaftes, krampfig, scheu, isoliert, meidend und oft
gemieden; hier der Natur gegeben, in freundlicher Nähe zu ihr, durch
ihren Einfluß, wenn auch immer nur vorübergehend, losgesprochen von
nicht abzuwälzender Schuld und Anklagebürde, die sonst lähmend, ja
zermalmend hätte wirken müssen.
Über diese beiden Erlebnisgebiete hinaus, als Drittes dann die innere
Landschaft, die die Seele aus ihrem Zustand vor der Geburt mit in die

Welt bringt, die das Wesen und die Farbe des Traumes bestimmt, des
Traumes in der weitesten Bedeutung, wie überhaupt die heimlichen und
unbewußten Richtwege des Geistes, die sein Klima sind, seine
eigentliche Heimat. Nicht etwa nur Phantasiegestaltung von Meer und
Gebirge, Höhle, Park, Urwald, das paradiesisch Ideale der unreifen
Sehnsucht, der Aus- und Zuflucht alles Ungenügens an der Gegenwart
ist unter der inneren Landschaft zu verstehen, vielmehr ist sie der
Kristall des wahren Lebens selbst, der Ort, wo seine Gesetze diktiert
werden, und wo sein wirkliches Schicksal erzeugt wird, von dem das in
der sogenannten Wirklichkeit sich abspielende vielleicht bloß
Spiegelung ist.
In diesem Punkt sich auf Erfahrungen zu berufen, ohne zu flunkern
oder zu dichten, ist fast unmöglich. Es handelt sich um
Gefühlsintensitäten und um Bilder von unfaßbarer Flüchtigkeit.
Beinahe alles zu Äußernde muß sich auf ein »ich glaube« beschränken.
Man tastet hin, man ahnt zurück; jede Erinnerung ist ja ein Stück
Konstruktion. Es scheint mir zweifellos, daß alle innere Landschaft
atavistische Bestandteile enthält, und ebenso zweifellos dünkt mich,
daß sie bei den meisten Menschen zu einem gewissen Zeitpunkt
zwischen der Pubertät und dem Eintritt in das sogenannte praktische
Leben verwelkt, verdorrt, schließlich abstirbt und untergeht.
Ich war sehr naiv in meiner Abhängigkeit von Traum und Vision.
Vision darf ich es wohl nennen, da sich mir unerlebte Zustände,
unwahrnehmbare Dinge und Figuren in Greifbarkeit zeigten. Im Alter
zwischen zehn und zwanzig Jahren lebte ich in beständigem Rausch, in
einer Fernheit oft, die den Mitmirgehenden und -seienden bisweilen nur
eine empfindungslose Hülle ließ. Es ist mir später berichtet worden,
daß man mich anschreien mußte, um mich als Wachenden zu wecken.
Ich hatte Anfälle von Verzückung, von wilder, stiller Verlorenheit, und
in der Regel war die Abtrennung so gewaltsam und jäh, daß die
Verbindungen rissen, und daß ich wie gespalten blieb, auch ohne
Wissen, was dort mit mir geschehen war. In beiden Sphären lebte ich
mit geschärfter Aufmerksamkeit, wie überhaupt Aufmerksamkeit ein
Grundzug meines Wesens ist, aber
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