Mein Weg als Deutscher und Jude | Page 3

Jakob Wasserman
einreden lassen, von den gröbsten Äußerlichkeiten
genährt wird, und daß sie infolgedessen über die wirkliche Gefahr in
einer ganz falschen Richtung orientiert sind. Die Gehässigsten waren
darin die Stumpfesten.
Das zunächst nur als Andeutung. Was die Gemeinschaft anlangt, so
fühlte ich mit ihr keinerlei tieferen Zusammenhang. Religion war eine
Disziplin und keine erfreuliche. Sie wurde von einem seelenlosen
Manne seelenlos gelehrt. Sein böses, eitles, altes Gesicht erscheint mir
noch jetzt bisweilen im Traum. Sonderbarerweise habe ich selten von
einem humanen oder liebenswürdigen jüdischen Religionslehrer gehört,
die meisten sind kalte Eiferer und halb lächerliche Figuren. Dieser, wie
alle, bläute Formeln ein, antiquierte hebräische Gebete, die ohne
eigentliche Kenntnis der Sprache mechanisch übersetzt wurden,
Abseitiges, Unlebendiges, Mumien von Begriffen. Positiven Ertrag gab
nur die Lektüre des Alten Testaments, aber auch da fehlte die
Erleuchtung, vom Gegenstand wie vom Interpreten her. Vorgang und
Gestalt wirkten im Einzelnen, Episodischen, das Ganze zeigte sich starr,
oft absurd, ja unmenschlich und war durch keine höhere Anschauung
geläutert. Vom Neuen Testament brach bisweilen ein Strahl herüber
wie Lichtschein durch eine verschlossene Tür, und Neugier mischte
sich mit unbestimmtem Grauen. Jene ewigen Bilder und Mythen
befruchteten meine Phantasie erst, als ich in ein privates, sozusagen
psychologisches Verhältnis zu ihnen treten konnte, ein Prozeß, der sie
individualisierte, im Sinne der Aufklärung geistig machte, oder im
Sinne der Romantik stofflich, je nachdem, in jedem Falle von der
Religion ablöste.

Um den Gottesdienst war es noch übler bestellt. Er war lediglich
Betrieb, Versammlung ohne Weihe, geräuschvolle Übung
eingefleischter Gebräuche ohne Symbolik, Drill. Der fortgeschrittene
Teil der Gemeinde hatte eine moderne Synagoge gebaut, eines jener
Häuser im quasi-byzantinischen Stil, wie man in den meisten deutschen
Städten eines findet, und deren parvenühafte Prächtigkeit über die
fehlende Gemütsmacht des religiösen Kultus nicht hinwegtäuschen
kann. Mir war da alles hohler Lärm, Ertötung der Andacht, Mißbrauch
großer Worte, unbegründete Lamentation, unbegründet, weil im
Widerspruch mit sichtbarem Wohlleben und herzhafter Weltlichkeit
stehend; Überhebung, Pfafferei und Zelotismus. Die einzige
Erquickung waren die deutschen Predigten eines sehr stattlichen
blonden Rabbiners, den ich verehrte.
Die Konservativen und Altgläubigen hielten ihren Dienst in den
sogenannten Schulen ab, kleinen Gotteshäusern, oft nur Stuben in einer
entlegenen Winkelgasse. Da sah man noch Köpfe und Gestalten, wie
sie Rembrandt gezeichnet hat, fanatische Gesichter, Augen voll Askese
und glühend im Gedächtnis unvergessener Verfolgungen. Auf ihren
Lippen wurden die strengen Gebete, Anruf und Verfluchung, wirklich,
die lastbeladenen Schultern sprachen von generationenalter Demut und
Entbehrung, die ehrwürdigen Gebräuche wurden in entschlossener
Hingabe buchstabentreu erfüllt, die Erwartung des Messias war
ungebrochener, wenn auch dumpfer Glaube. Aufschwung war auch
unter ihnen nicht, Trost oder Innigkeit, oder Glanz oder Menschlichkeit,
oder Freude, aber Überzeugung und Leidenschaft war unerbittliche
Regel und Gemeinschaft.
In eine solche Schule mußte ich nach dem Tode meiner Mutter, als
neunjähriger Knabe, jeden Morgen mit Sonnenaufgang, jeden Abend
mit Sonnenuntergang, am Sabbat und an Feiertagen auch nachmittags
ein Jahr hindurch gehen, um als Erstgeborener vor der Gebetsgemeinde
das Kaddisch zu sagen. Zehn männliche Personen über dreizehn Jahren
mußten zu dem Zweck versammelt sein, doch waren es meist alte,
uralte Leute, die Übriggebliebenen einer früheren Welt. Es war hart, an
Wintermorgen bei Schnee und Kälte, im Sommer um fünf Uhr und
früher noch, eine Pflicht zu üben, die aufgenötigt und befohlen war,

deren Bedeutung ich nicht begriff oder begreifen mochte. Es gab sich
niemand die Mühe, sie dem Geist zu verklären und so die Gefahr zu
bannen, daß durch die Befolgung eines als grausam empfundenen
Brauches das Bild der Mutter, obschon nur vorübergehend, getrübt
wurde. Dazu kam, daß im väterlichen Hause, besonders nach der
zweiten Verheiratung des Vaters, von einer religiösen Bindung und
Erziehung nicht die Rede war. Gewisse äußerliche Vorschriften wurden
eingehalten, mehr aus Rücksicht auf Ruf und Verwandte, aus Furcht
und Gewöhnung, als aus Trieb und Zugehörigkeit. Fest- und Fasttage
galten als heilig. Der Sabbat hatte noch einen Rest seines urtümlichen
Gehalts, die Gesetze für die Küche wurden noch geachtet. Aber mit der
wachsenden Schwere des Brotkampfes und dem Eindringen der neuen
Zeit verloren sich auch diese Gebote einer von der Andersgläubigen
unterschiedenen Führung. Man wagte die Fessel nicht ganz
abzustreifen; man bekannte sich zu den Religionsgenossen, obwohl von
Genossenschaft wie von Religion kaum noch Spuren geblieben waren.
Genau betrachtet war man Jude nur dem Namen nach und durch die
Feindseligkeit, Fremdheit oder Ablehnung der christlichen Umwelt, die
sich ihrerseits hierzu auch nur auf ein Wort, auf Phrase, auf falschen
Tatbestand stützte. Wozu war man also noch Jude, und was war der
Sinn davon? Diese Frage wurde immer unabweisbarer für mich, und
niemand konnte sie beantworten.
Es war ein trübes Medium zwischen mir und allen geistigen und
bürgerlichen Dingen. Bei jedem Schritt nach vorwärts stieß ich auf
Hemmnisse und Verschleierungen, nach keiner Richtung hin war
offener Weg. Wenn ich sagte, daß ich von Pferch und Helotentum
nichts spürte, so bezieht sich das natürlich nur auf die rechtliche
Konstruktion
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