Mein Weg als Deutscher und Jude | Page 2

Jakob Wasserman
Helotentum spürte ich also in meiner Jugend nichts
mehr. Auf der einen Seite hatte man sich eingelebt, auf der andern sich
gewöhnt. Wirtschaftlicher Aufschwung begünstigte die Duldsamkeit.
Ich erinnere mich, daß mein Vater bei irgendeiner Gelegenheit mit
freudiger Genugtuung sagte: »Wir leben im Zeitalter der Toleranz!«
Das Wort Toleranz machte mir in Gedanken viel zu schaffen; es flößte
mir Respekt ein, und ich beargwöhnte es, ohne daß ich seine
Bedeutung begriff.
In Kleidung, Sprache und Lebensform war die Anpassung durchaus

vollzogen. Die Schule, die ich besuchte, war staatlich und öffentlich.
Man wohnte unter Christen, verkehrte mit Christen, und für die
fortgeschrittenen Juden, zu denen mein Vater sich zählte, gab es eine
jüdische Gemeinde nur im Sinn des Kultus und der Tradition; jener
wich vor dem verführerischen und mächtigen modernen Wesen mehr
und mehr ins Konventikelhafte zurück, in heimliche, abgekehrte,
frenetische Gruppen; diese wurde Sage, schließlich nur Wort und leere
Hülse.
Mein Vater war kleiner Kaufmann, dem es auf keine Weise wie den
meisten seiner Glaubens- und Altersgenossen gelingen wollte,
Reichtümer zu erwerben. Er hatte in Geschäften eine unglückliche
Hand. Er war ein wenig Phantast und hatte immer seine fixe Idee, die
ihn der Biegsamkeit der Geldmacher beraubte. Er träumte von großen
Spekulationen und großen Unternehmungen, aber was er angriff,
schlug fehl. Seine Geistesrichtung war die sentimental-freiheitliche,
laues Nachzüglertum der Märzrevolution, das seine verwässerten
Tendenzen ins neue Reich getragen hatte. Ich entsinne mich aus meiner
Kindheit eines leidenschaftlichen Disputs zwischen ihm und einem
seiner Vettern über Ferdinand Lassalle, von dem er wie vom
Gottseibeiuns sprach; aber ich entsinne mich auch, daß er manchmal
am Abend rührende Lieder zur Gitarre sang. Das war noch in der guten
Zeit, als ihn die Sorgen noch nicht gebrochen hatten. Er liebte Schiller
und sprach mit Hochachtung von Gutzkow. Auf einer seiner Reisen
hatte er in einem thüringischen Badeort zusammen mit Gutzkow an der
Gästetafel gespeist; er erzählte oft mit Stolz davon, und in späteren
Jahren, als meine Kämpfe um den Schriftstellerberuf ihn erbitterten,
sagte er mir einmal, um vermessene Ambitionen zurückzuweisen, als
deren Beute er mich sah: »Was bildest du dir ein? Einen Gutzkow
kannst du doch nie erreichen!«
Mitte der achtziger Jahre gründete er eine Fabrik in kleinem Stil, mit
geringem Kapital, das er mühselig zusammengeborgt hatte, aber mit
großen Hoffnungen. Nach wenigen Jahren machte er Bankrott und
wurde dann Versicherungsagent, eine Tätigkeit, die trotz unermüdlicher
Anstrengung ihn mit den Seinen kaum über Wasser hielt und ihn
außerdem mit dem Gefühl einer gescheiterten Existenz belud. Er hat

sein ganzes Leben lang schwer gearbeitet; als ich, dreißigjährig, den
Sechsundfünfzigjährigen für einige Wochen zu Gast bitten konnte,
zeigte er eine beständige stumme Verwunderung, und beim Abschied
sagte er zu mir: »Es waren die ersten Ferien meines Lebens!« Nach
Hause zurückgekehrt, starb er, acht Tage nachher.
Meine Mutter starb, als ich neun Jahre alt war. Sie war eine Schönheit,
von blondem Typus, sehr sanft, sehr schweigsam. Es wurde mir oft
erzählt, daß Fremde, die sich in der Stadt aufhielten, durch den Ruf
ihrer Schönheit neugierig gemacht, sie zu sehen begehrten. Es wurde
mir auch erzählt, daß ihre Jugendliebe ein Christ gewesen sei, ein
Maschinenmeister aus Ulm. Es sind noch Briefe von ihr vorhanden, in
denen eine kindlich-volkshafte Schwermut atmet, Poesie der
Traurigkeit. Ich entsinne mich noch gut, welche Bestürzung ihr
unerwarteter Tod hervorrief, und wie die halbe Stadt ihrem Sarg zum
Friedhof folgte.
Beide Menschen, mein Vater und meine Mutter, obwohl gegeneinander
sehr verschieden geartet, hatten ein Gemeinsames darin, daß sie ihrer
Zeit nicht gemäß waren. Sie kamen von der Romantik her, der Vater als
geistiger Spätling, die Mutter im Gemüt davon verdunkelt und
beschwert. Bei der Mutter äußerte es sich naturhaft und führte eine
tragische Lebensstimmung herbei, beim Vater drang es in das
Motorische und war von einem grundlosen, alle Sachverhalte
verhängnisvoll verschleiernden Optimismus begleitet, der ihm
Enttäuschung über Enttäuschung brachte und seinen Mut und seine
Kraft zerstörte.

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Die meinem Judentum geltenden Anfeindungen, die ich in der Kindheit
und ersten Jugend erfuhr, gingen mir, wie mich dünkt, nicht besonders
nahe, da ich herausfühlte, daß sie weniger die Person als die
Gemeinschaft trafen. Ein höhnischer Zuruf von Gassenjungen, ein
giftiger Blick, abschätzige Miene, gewisse wiederkehrende
Verächtlichkeit, das war alltäglich. Aber ich merkte, daß meine Person,

sobald sie außerhalb der Gemeinschaft auftrat, das heißt sobald die
Beziehung nicht mehr gewußt wurde, von Sticheleien und
Feindseligkeit fast völlig verschont blieb. Mit den Jahren immer mehr.
Mein Gesichtstypus bezichtigte mich nicht als Jude, mein Gehaben
nicht, mein Idiom nicht. Ich hatte eine gerade Nase und war still und
bescheiden. Das klingt als Argument primitiv, aber der diesen
Erfahrungen Fernstehende kann schwerlich ermessen, wie primitiv
Nichtjuden in der Beurteilung dessen sind, was jüdisch ist, und was sie
für jüdisch halten. Wo ihnen nicht das Zerrbild entgegentritt, schweigt
ihr Instinkt, und ich habe immer gefunden, daß der Rassenhaß, den sie
sich einreden oder
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