Mein Leben und Streben | Page 7

Karl May
mit schwierigen Menschheitsfragen zu befassen! Der Schluessel zu all diesen Raetseln ist laengst vorhanden. Die christliche Kirche nennt ihn "Erbsuende". Die Vorvaeter und Vormuetter kennen, heisst, die Kinder und Enkel begreifen, und nur der Humanitaet, der wahren edelmenschlichen Gesinnung ist es gegeben, in Betracht der Vorfahren wahr und ehrlich zu sein, um auch gegen die Nachkommen wahr und ehrlich sein zu koennen. Den Einfluss der Verstorbenen auf ihre Nachlebenden an das Tageslicht zu ziehen, ist rechts eine Seligkeit und links eine Erloesung fuer beide Teile, und so habe auch ich die meinen genauso zu zeichnen, wie sie in Wirklichkeit waren, mag man dies fuer unkindlich halten oder nicht. Ich habe nicht nur gegen sie und mich, sondern auch gegen meine Mitmenschen wahr zu sein. Vielleicht kann mancher aus unserem Beispiele lernen, in seinem Falle das Richtige zu tun. -- --
Mutter hatte ganz unerwartet von einem entfernten Verwandten ein Haus geerbt und einige kleine, leinene Geldbeutel dazu. Einer dieser Geldbeutel enthielt lauter Zweipfenniger, ein anderer lauter Dreipfenniger, ein dritter lauter Groschen. In einem vierten steckte ein ganzes Schock Fuenfzigpfenniger, und im fuenften und letzten fanden sich zehn alte Schafhaeuselsechser, zehn Achtgroschenstuecke, fuenf Gulden und vier Taler vor. Das war ja ein Vermoegen! Das erschien der Armut fast wie eine Million! Freilich war das Haus nur drei schmale Fenster breit und sehr aus Holz gebaut, dafuer aber war es drei Stockwerke hoch und hatte ganz oben unter dem First einen Taubenschlag, was bei andern Haeusern bekanntlich nicht immer der Fall zu sein pflegt. Grossmutter, die Mutter meines Vaters, zog in das Parterre, wo es nur eine Stube mit zwei Fenstern und die Haustuer gab. Dahinter lag ein Raum mit einer alten Waescherolle, die fuer zwei Pfennige pro Stunde an andere Leute vermietet wurde. Es gab glueckliche Sonnabende, an denen diese Rolle zehn, zwoelf, ja sogar vierzehn Pfennige einbrachte. Das foerderte die Wohlhabenheit ganz bedeutend. Im ersten Stock wohnten die Eltern mit uns. Da stand der Webstuhl mit dem Spulrad. Im zweiten Stock schliefen wir mit einer Kolonie von Maeusen und einigen groesseren Nagetieren, die eigentlich im Taubenschlage wohnten und des Nachts nur kamen, uns zu besuchen. Es gab auch einen Keller, doch war er immer leer. Einmal standen einige Saecke Kartoffeln darin, die gehoerten aber nicht uns, sondern einem Nachbar, der keinen Keller hatte. Grossmutter meinte, dass es viel besser waere, wenn der Keller ihm und die Kartoffeln uns gehoerten. Der Hof war grad so gross, dass wir fuenf Kinder uns aufstellen konnten, ohne einander zu stossen. Hieran grenzte der Garten, in dem es einen Holunderstrauch, einen Apfel-, einen Pflaumenbaum und einen Wassertuempel gab, den wir als "Teich" bezeichneten. Der Hollunder lieferte uns den Tee zum Schwitzen, wenn wir uns erkaeltet hatten, hielt aber nicht sehr lange vor, denn wenn das Eine sich erkaeltete, fingen auch alle Andern an, zu husten und wollten mit ihm schwitzen. Der Apfelbaum bluehte immer sehr schoen und sehr reichlich; da wir aber nur zu wohl wussten, dass die Aepfel gleich nach der Bluete am besten schmecken, so war er meist schon Anfang Juni abgeerntet. Die Pflaumen aber waren uns heilig. Grossmutter ass sie gar zu gern. Sie wurden taeglich gezaehlt, und niemand wagte es, sich an ihnen zu vergreifen. Wir Kinder bekamen doch mehr, viel mehr davon, als uns eigentlich zustand. Was den "Teich" betrifft, so war er sehr reich belebt, doch leider nicht mit Fischen, sondern mit Froeschen. Die kannten wir alle einzeln, sogar an der Stimme. Es waren immer so zwischen zehn und fuenfzehn. Wir fuetterten sie mit Regenwuermern, Fliegen, Kaefern und allerlei andern guten Dingen, die wir aus gastronomischen oder aesthetischen Gruenden nicht selbst geniessen konnten, und sie waren uns auch herzlich dankbar dafuer. Sie kannten uns. Sie kamen an das Ufer, wenn wir uns ihnen naeherten. Einige liessen sich sogar ergreifen und streicheln. Der eigentliche Dank aber erklang uns des Abends, wenn wir am Einschlafen waren. Keine Sennerin kann sich mehr ueber ihre Zither freuen als wir ueber unsere Froesche. Wir wussten ganz genau, welcher es war, der sich hoeren less [sic], ob der Arthur, der Paul oder Fritz, und wenn sie gar zu duettieren oder im Chor zu singen begannen, so sprangen wir aus den Federn und oeffneten die Fenster, um mitzuquaken, bis Mutter oder Grossmutter kam und uns dahin zurueckbrachte, wohin wir jetzt gehoerten. Leider aber kam einst ein sogenannter Bezirksarzt in das Staedtchen, um sogenannte gesundheitliche Untersuchungen anzustellen. Der hatte ueberall etwas auszusetzen. Dieser ebenso sonderbare wie gefuehllose Mann schlug, als er unsern Garten und unsern schoenen Tuempel sah, die Haende ueber dem Kopf zusammen und erklaerte, dass dieser Pest- und Cholerapfuhl sofort verschwinden muesse. Am naechsten Tage brachte der Polizist Eberhard einen Zettel des Herrn Stadtrichters Layritz des Inhaltes, dass binnen jetzt und drei Tagen der Tuempel auszufuellen und die Froschkolonie zu toeten sei, bei fuenfzehn "Guten Groschen"
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